Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
seine Aufgabe.« Er klatschte in die Hände und rief etwas in einer fremden Sprache, woraufhin die Schüler sich zögernd zerstreuten.
Die beiden Missionsbrüder ließen es sich nicht nehmen, Isabel herumzuführen, während Sabiam hinter ihnen herlief und ihre Reisetasche trug. Auf Isabels Vorschlag, die Tasche irgendwo unterzustellen, schüttelte Bruder Lorenz den Kopf.
»So gern wir unsere braunen Brüder auch haben, man muss aufpassen wie ein Haftelmacher, will man nicht von ihnen bestohlen werden. Diese Naturkinder haben wie wir ihre Licht-und Schattenseiten. Sie wissen sehr gut, dass Stehlen unrecht ist, und doch tun sie es immer wieder. Sie glauben ja nicht, Schwester Maritz, wie oft schon etwas aus unserer Vorratshütte entwendet wurde. Seit einigen Monaten haben wir deshalb ein Schloss davor. Aber kommen Sie, lassen Sie sich unsere bescheidene Mission zeigen.«
Im Vergleich zu Finschhafen mit seinen Straßen, Häusern, der Poststation und der Speiseanstalt sah Simbang noch reichlich wild und ursprünglich aus. Hohe Palmen und Schraubenbäume erhoben sich zwischen den drei, nein, vier palmgedeckten Pfahlhäusern am Rand einer dem Urwald abgetrotzten Lichtung. Gegenüber, auf der anderen Seite der Lichtung, stand ein weiteres Gebäude aus Holz; die Schule mit den Schlafgelegenheiten für die Kostschüler, wie ihr Bruder Laumer erklärte. Die Kirche, nur wenige Schritte daneben, war ein einfacher Bau aus einem Holzgerüst, das man mit geflochtenen Matten umkleidet hatte. Das Dach war mit getrocknetem Gras gedeckt.
Ein lautes Zetern drang durch das auf-und abschwellende Meeresrauschen und den Wind, der durch die Baumwipfel strich. Isabel hob den Kopf. Nein, das war kein Zetern, da rief jemand ihren Namen! Ja, jetzt konnte sie es ganz deutlich verstehen: »Isa! Isa!« Es klang krächzend, wie jemand, der heiser oder stark erkältet war.
Ihr Herz tat einen Sprung, und für einen kurzen, schwirrenden Moment glaubte, hoffte sie, die Nachricht von Conrads Tod sei falsch gewesen, und er würde soeben aus einer der Hütten treten und sie …
Es war natürlich nicht Conrad. Auf dem Wedel einer Bananenpalme ganz in ihrer Nähe saß ein schneeweißer Kakadu, dessen Kopf ein hellgelbes Federbüschel schmückte. Und aus seinem gekrümmten Schnabel kam immer wieder: »Isa! Isa!«
»Sehen Sie, Schwester Maritz«, Bruder Lorenz deutete auf den Vogel, »das ist Koki. Bruder Felby hat ihn aufgezogen und ihm einige Worte beigebracht.«
»CooooRRad«, machte der Vogel jetzt wie zur Bestätigung. »CooooRRad! Isa! Isa! Guten Tag!«
Isabel wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Der sprechende Vogel war lustig, aber die Vorstellung, dass Conrad ihm ihren Namen beigebracht hatte, erfüllte ihr Herz mit Trauer. Wieder musste sie an sein Grab denken, das sie vor zwei Tagen besucht hatte, der niedrige Grabhügel bereits von einem feinen moosigen Flaum bedeckt. Danach hatte sie eine seltsame Unruhe gepackt, bis sie beschlossen hatte, nach Simbang zu gehen. Sie musste endlich wissen, wo Conrad gelebt und gearbeitet hatte, wollte den Ort sehen, der fast ihre Heimat geworden wäre. Herr von Faber und seine Schwester hatten ihr angeboten, sie zu einem kurzen Besuch in die Missionsstation zu begleiten, doch Isabel hatte dankend abgelehnt. Sie wollte sich selbst ein Bild machen, und dazu gehörte, dass sie einige Tage dort bleiben würde. Womöglich würde sie dann besser mit allem abschließen können und sich darüber klarwerden, was sie nun mit ihrem Leben anfangen wollte.
Sie drängte die aufsteigenden Tränen zurück, die ihr bei den Gedanken an Conrad gekommen waren, und trat einen Schritt auf den Vogel zu. Er war drollig anzusehen, wie er da auf seinem Wedel von einem krallenbewehrten Fuß auf den anderen stieg und sie mit kohlschwarzen Augen unverwandt ansah.
»Na, du.« Vorsichtig hielt sie dem Tier die Hand hin. »Du bist ja ein Hübscher.«
Der Vogel legte den Kopf schräg und richtete seine gelbe Federhaube ruckartig auf.
»Passen Sie lieber auf, Schwester Ma–«
Aber da ruckte der scharfe Schnabel des Vogels auch schon vor und biss sie in den Zeigefinger. Es war eher der Schreck als der Schmerz, der sie aufschreien ließ.
Bruder Lorenz war untröstlich. »Das tut mir furchtbar leid, Schwester Maritz! Der Vogel ist sonst nicht so angriffslustig, aber seit Bruder Felby von uns gegangen ist … Außerdem kennt er fast nur Männer, und … Oje, Sie bluten!«
»Ist schon gut, Bruder Lorenz«, beruhigte Isabel
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