Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
du weglaufen.«
Isabel hob die Stimme. »Außerdem würde ich es begrüßen, wenn Sie mich nicht mehr duzen würden.«
»Ist das dein Ernst?«
»Allerdings.« Es gab ihr wenigstens ein kleines bisschen das Gefühl, Kontrolle zu haben.
Er schwieg einen Augenblick, spürbar irritiert. »Also gut, Fräulein Maritz«, sagte er dann, »wenn es Ihnen damit besser geht, werde ich Sie ab jetzt wieder siezen.«
»Danke.«
Und endlich gelang es ihr, ihre Muskeln zu entspannen und sich zu erleichtern.
Wenig später, zurück auf der kleinen Lichtung, bemerkte sie, dass ihr Haarknoten aufgegangen war und schlaff herabhing. Sie zog die Klammern heraus und begann langsam, ihre überschulterlangen braunen Haare zu einem Zopf zu flechten. Sie musste Zeit gewinnen. Je länger sie hier blieben, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass der Suchtrupp sie finden würde. Ihr Blick ging zu Noah, der auf einem umgestürzten Baumstamm saß und sie beobachtete. Fast bereute sie ihre Bitte, sie wieder zu siezen. Sie durfte nicht riskieren, ihn zu verärgern.
»Das ist sicher sehr störend.« Sie deutete auf seine Handgelenke, die noch immer von den rostigen Handschellen umschlossen wurden. Obwohl er sich heute Morgen länger mit der Zange daran abgemüht hatte, war es ihm nicht gelungen, sich davon zu befreien.
Kurzentschlossen hielt sie ihm eine ihrer metallenen Haarnadeln hin. »Versuchen Sie das als Dietrich.«
Er sah sie verständnislos an. »Wer ist Dietrich?«
»Es heißt was . Was ist ein Dietrich.« So ganz konnte sie von den Gewohnheiten einer Lehrerin nicht lassen. »Ein Dietrich ist eine Art Universalschlüssel. Hier, Sie müssen den vorderen Teil der Klammer umbiegen« – sie zeigte es ihm – »und damit versuchen, das Schloss zu öffnen.« Unter seinem Blick stieg ihr das Blut in den Kopf. »Ich … ich habe so etwas einmal in einem Buch über Entfesselungskünstler gelesen.«
Er rührte sich nicht, sah sie nur an. Dann hielt er ihr sein rechtes Handgelenk hin. »Versuchen Sie es.«
Es war schwieriger, als sie geglaubt hatte, und sie hantierte mehrere Minuten mit ein paar Klammern herum, bis sich das Schloss mit einem leisen Klacken tatsächlich öffnete.
»Du bist – das ist erstaunlich!« Noah rieb sich sein befreites Handgelenk, dann streckte er ihr die Linke entgegen. »Kriegen Sie das noch mal hin?«
Jetzt, da sie wusste, wie es funktionierte, ließ sich die zweite Handschelle fast problemlos öffnen.
»Wir müssen los.« Erst als er aufstand, merkte sie, dass sie in ihrer Freude über ihren Erfolg ganz vergessen hatte, Zeit gewinnen zu wollen.
Isabel blieb stehen, die Bastschnur spannte sich. »Noah, bitte. Lassen Sie uns zurückgehen. Es ist noch nicht zu spät. Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich … ich werde sagen, dass das alles ein Missverständnis war.«
»Ein Missverständnis ? Ich glaube kaum, dass man bei einem Mord von einem Missverständnis sprechen kann. Und dass ich dich – dass ich Sie entführt habe, ist wohl auch nicht zu leugnen.«
Isabel sah ihre Felle davonschwimmen. »Dann … dann lassen Sie mich alleine gehen. Ich –«
»Damit Sie den Suchtrupp auf meine Fährte schicken? Nein, Isabel, so dumm bin ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber selbst wenn niemand hinter mir her wäre, könnte ich Sie nicht gehen lassen. Sie würden sich nur heillos verlaufen und irgendwann elendig sterben. Der Dschungel ist gefährlich!«
»Aber was haben Sie denn mit mir vor? Ich … ich will ja gar nicht wissen, wohin Sie wollen. Sagen Sie mir nur, wie lange ich das noch mitmachen muss.«
Doch er antwortete nicht.
*
Es wurde schnell wieder drückend heiß und schwül. Isabel roch sich selbst. Sie hätte sich dringend waschen müssen, aber daran war unter diesen Umständen natürlich nicht zu denken. Ständig wischte sie sich über Hals und Gesicht, um Moskitos und sonstige Insekten zu verscheuchen, die um sie herumschwirrten. Wieso gingen diese Viecher fast nur an sie und ließen Noah aus?
Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Missionsbrüder und Berthold einen Suchtrupp zusammengestellt hatten, der nun aufbrach, um sie zu retten. Wie sich die Männer durch den Urwald kämpften. Aber es fiel ihr schwer, daran zu denken. Immer wieder kehrte ihr Blick zu ihrem Entführer zurück, der sein Hemd ausgezogen hatte und sich leichtfüßig vor ihr durch die Wildnis bewegte. Um den linken Oberarm trug er noch immer das Muschelband mit dem kleinen Knochendolch. Isabel konnte nicht
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