Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
ihnen ein Kanu bekommen.
Isabel war blass geworden. »Müssen wir wirklich da hinüber?«, fragte sie mit sichtlicher Beklemmung.
Er nickte. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Solche Brücken werden schon seit Ewigkeiten verwendet.«
Er betrat die Brücke und ging vorsichtig ein paar Schritte auf den schwankenden Bohlen. Die Lianen mochten alt sein, aber sie hielten. Er blieb stehen und drehte sich zu Isabel um. »Sehen Sie, es ist sicher. Kommen Sie!«
Sie verharrte wie angewachsen. »Noah, bitte, es ist so schrecklich hoch, und diese einfache Brücke da … Ich fürchte, das kann ich nicht!«
»Doch, Sie können.« Er kehrte zurück zu ihr und streckte seinen Arm aus. »Geben Sie mir Ihre Hand.«
Sie zögerte, atmete tief durch, dann trat sie einen zaghaften Schritt nach vorne und ergriff seine Hand.
»Lass mich nicht los!«, murmelte sie angespannt.
Sein Herz machte einen kurzen, freudigen Hüpfer, und er konnte nicht verhindern, dass sich ein beglücktes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Sie sah ihn an, eine leichte Röte erschien auf ihren Wangen. Ihr war es genauso aufgefallen wie ihm: Sie hatte ihn geduzt.
»Ich lass dich nicht los«, sagte er leise und fasste ihre Hand fester. »Ich halte dich.«
Die Konstruktion aus kunstvoll miteinander verknüpften Ranken und Hölzern knarrte unter ihrem Gewicht und schwankte bei jedem Schritt. Isabel hielt sich mit einer Hand am Geländer aus geflochtenen Lianen fest, die andere umklammerte seine Rechte. Den Blick starr nach vorne gerichtet, tastete sie sich über die Brücke. Ihre Finger zitterten.
Sie waren knapp über die Mitte der Brücke hinaus, als Noahs Blick dem Lauf des Flusses unter sich folgte. Ihm stockte der Atem: Weit entfernt am gegenüberliegenden Ufer, außerhalb ihrer Rufweite, kampierte eine Gruppe von Männern. Er sah einen Gewehrlauf in der Sonne blitzen, und trotz der Wärme wurde ihm plötzlich kalt. War das der Suchtrupp? Hatten sie sie doch noch eingeholt?
Isabel hatte nichts davon mitbekommen. Sie wirkte erleichtert, als sie die andere Seite der Schlucht erreichten, und ließ verlegen seine Hand los.
Ein kurzes Stück folgten sie einem halb überwucherten Pfad, der leicht hügelan führte, bis er sich zu zwei noch schmaleren Pfaden gabelte. Noah blieb stehen und pflückte Isabel vorsichtig ein bunt schillerndes Insekt von der Schulter. Es war riskant, aber er musste Gewissheit haben.
»Ich muss kurz etwas erledigen«, sagte er in der Hoffnung, dass Isabels anerzogene Schamhaftigkeit sie hinderte, genauer nachzufragen oder ihm gar zu folgen. »Wartest du dort vorne auf mich? Ich bin gleich wieder zurück.«
Isabels Gesicht glühte noch immer. Dann nickte sie und ging voraus.
Noch einmal betrat er die schwankende Brücke, diesmal allerdings nur so weit, bis er genug sehen konnte. Er zählte sieben Europäer in hellen Anzügen und Tropenhelmen, dazu genauso viele einheimische Träger. Sie lagerten mit einer großen Menge Gepäck und Ausrüstungsgegenständen am Ufer des Flusses, auch einige Kanus waren dort vertäut.
Das war kein Suchtrupp. Ein Suchtrupp setzte sich aus einheimischen Polizeisoldaten zusammen, die er auch auf diese Entfernung gut an ihrer Dienstmütze und dem Seitengewehr hätte erkennen können. Auch die Kanus sprachen gegen einen Suchtrupp, der ihnen wohl eher zu Fuß gefolgt wäre. Niemand konnte schließlich wissen, dass er, Noah, ausgerechnet hierher kommen würde. Vermutlich handelte es sich bei den Männern dort unten um eine Expedition, die das Landesinnere entlang des Ramu erkundete.
Das war eine unerwartete Gelegenheit: Mit diesen Leuten konnte Isabel wohlbehalten nach Simbang zurückkehren! Und wenn er es geschickt anstellte, könnte er den Männern vielleicht sogar eines ihrer Kanus entwenden und damit ebenfalls flussabwärts gelangen, bevor sie den Verlust bemerkten.
Er musste darüber nachdenken. Musste überlegen, wie er Isabel zu ihnen schicken konnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Aber die Vorstellung, sie jetzt gehen zu lassen, grub sich wie ein Messer in sein Herz. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er sich schon so bald von ihr trennen musste. Gerade jetzt, wo sie …
Nein, es war gut so. Es wurde höchste Zeit, dass sie wieder zurück in die Zivilisation kam.
Als er die Stelle erreicht hatte, an der sie hatte warten sollen, durchzuckte ihn ein jäher Schreck: Wo war sie?
»Isabel?«, rief er gedämpft, aus Sorge, die Expeditionsteilnehmer könnten ihn hören. Er
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