Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
Leben strotzenden Umgebung wie diesem Urwald müsste sich mehr Nahrhaftes finden, doch dem war nicht so. Ab und zu flatterten zwar ein paar bunte Vögel auf, sahen sie einen pelzigen Kuskus im dichten Blätterdach verschwinden. Aber um diese Tiere zu jagen, hätte Noah Pfeil und Bogen gebraucht, und das war nicht so leicht herzustellen wie der Bambusspeer, den er längst weggeworfen hatte, weil er ihn beim Laufen störte.
Vor einem hoch aufragenden Stamm blieb Noah stehen. Der Baum wirkte uralt und erhaben, als hätte ihn ein Künstler mit Ranken und Moos geschmückt. Auf seiner grün überzogenen Rinde zeigten sich Kratzspuren, am Boden um den Stamm herum lagen ein paar platte Haufen, offenbar die Hinterlassenschaften eines Tieres.
Noahs Blick ging zu Isabel. »Ich würde Sie nur ungern wieder anbinden. Versprechen Sie mir, dass Sie nicht weglaufen?«
»Ja, natürlich.« Sie nickte, erleichtert über diese deutliche Verbesserung. »Was haben Sie denn vor?«
Er deutete auf den Baum. »Mich umschauen. Und vielleicht kann ich da oben auch noch ein Baumkänguru fürs Abendessen fangen.«
Sie sah ihn verunsichert an. Nahm er sie schon wieder auf den Arm? »Kängurus leben nicht auf Bäumen«, gab sie zurück.
»Diese schon.«
Mit einer Pflanzenfaser band er sich das Buschmesser um den linken Oberarm, über den Hemdärmel, dann begann er, den Baum hinaufzuklettern. Er war schnell – Isabel sah staunend mit an, wie gewandt er barfuß von Ast zu Ast klomm und schon bald zwischen Blättern, Geäst und Lianengewirr verschwunden war.
»Passen Sie auf!«, wollte sie ihm noch nachrufen, aber sie biss sich auf die Zunge und schwieg. Natürlich würde er aufpassen, das musste sie ihm nicht erst sagen. Dieser Urwaldriese war sicher an die dreißig oder vierzig Meter hoch – eine Höhe, vor der ihr graute. Wenn Noah herunterfiel, wäre er tot, oder er würde sich zumindest etliche Knochen brechen. Mitten im Dschungel wäre auch das ein sicheres Todesurteil.
Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, etwas zu erkennen in dem dichten Baumkronendach aus Ranken und Zweigen. Wo blieb er nur so lange?
»Können Sie etwas sehen?«, rief sie nach einer Weile hinauf.
Sie erhielt keine Antwort. Hörte er sie nicht? Sie wollte nicht zu laut rufen – wer wusste schon, wen sie damit auf sich aufmerksam machen würde.
Es dauerte, bis Geraschel und Bewegung in den Blättern verrieten, dass er wieder hinabgeklettert kam. An seinem Hemd hatte sich ein Tier in der Größe eines Kleinkinds festgeklammert, das entfernt an einen flauschigen Bären erinnerte. Als Noah den letzten Meter zu Boden gesprungen war, wandte sich ihr ein freundliches Affengesicht mit rosa Nase und zwei dunklen Knopfaugen zu.
» Das ist ein Baumkänguru?«
Er nickte. »Diese Tiere sind so zutraulich, dass man sie nur von den Bäumen zu pflücken braucht – sofern man sie findet.«
Sie streckte einen Arm aus und streichelte dem Känguru über den Rücken. Das braungoldene Fell war weich wie das eines Hasen, der lange goldfarbene Schwanz reichte fast bis zum Boden. Isabels Herz schlug schneller vor überbordender Zärtlichkeit. Ganz ähnlich musste sich wohl eine Mutter fühlen, wenn sie zum ersten Mal ihr Kind in die Arme gelegt bekam.
Dann erst ging ihr auf, was Noah vorhatte. »Sie wollen dieses drollige Kerlchen doch nicht etwa töten?«
Er bückte sich und ließ das Baumkänguru von seiner Schulter auf den Boden klettern. Unbeholfen hoppelte es ein paar Schritte und blieb dann auf den Hinterbeinen sitzen. »Glauben Sie mir, ich tue das auch nicht gern, aber es muss sein. Wir haben seit Tagen kaum etwas gegessen.« Er zog das Messer mit der langen Schneide aus dem Halter aus Pflanzenfasern. »Es geht ganz schnell. Sie müssen ja nicht hinsehen.«
»Nein!« Isabel stellte sich vor das Känguru. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie dieses Tier umbringen!«
Noah seufzte. »Das hatte ich befürchtet.«
»Wir … wir können doch noch mehr Wurzeln essen. Oder diese scheußlichen Maden. Ich verspreche Ihnen, ich werde ohne zu murren ein paar Maden essen. Meinetwegen auch roh. Wie wäre es damit?«
»Gehen Sie aus dem Weg, Isabel.«
Sie schüttelte den Kopf. Tränen traten ihr in die Augen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass das Baumkänguru schwerfällig wieder auf seinen Baum zusteuerte.
»Gehen Sie zur Seite, sonst ist das Tier weg!«
Als er das Buschmesser kurz ablegte, um das Känguru festzuhalten, stürzte Isabel vor und griff nach der Waffe.
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