Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
den Knochendolch aus dem Band an seinem Oberarm. Dann trieb man sie vorwärts.
*
Das Stammesdorf lag auf einer kleinen Lichtung mitten im Dschungel und bestand aus einigen palmwedelgedeckten Pfahlhütten. Ganz ähnlich wie in Simbang. Allerdings gab es in Simbang ganz sicher nicht so etwas wie den hoch aufragenden Turm aus Holz und Lianen, der sich hier am Dorfrand erhob.
Vor einem aus Ästen und dünnen Stämmen erbauten Pferch, in dem ein Kasuar, ein großer, straußenähnlicher Laufvogel, eingesperrt war, blieben sie stehen. Wollte man sie etwa hier einschließen, zusammen mit dem Kasuar? Einer der Männer durchtrennte Isabels Fesseln, dann stieß man sie in den Pferch und verriegelte die Tür. Sie drückte sich an den äußersten Rand des Käfigs, bis sie erkannte, dass der Vogel durch ein geflochtenes Gatter von ihr getrennt war und sie mit seinen großen, krallenbewehrten Füßen nicht erreichen konnte. Was immer man mit ihr vorhatte – von dem Kasuar hatte sie zumindest nichts zu befürchten. Er war genau wie sie ein Gefangener.
Und Noah? Sie konnte gerade noch sehen, wie man ihn in ein großes, mit prächtiger Schnitzerei geschmücktes Pfahlhaus brachte. Was hatten sie mit ihnen vor? Würde es ihm gelingen, sich mit ihnen zu verständigen? Oder – würde man ihn ohne langes Federlesen töten? Und sie auch?
Vor dem Pferch hatte einer der Wilden Aufstellung genommen. Voller Furcht musterte Isabel die Muschelketten, die um seinen Hals hingen, und seine buschige, mit Knochen und Federn geschmückte schwarze Haarpracht. In einiger Entfernung sah sie ein paar dunkelhäutige, barbusige Frauen mit Baströckchen und einige Kinder. Sie schauten zu ihr herüber, aber niemand wagte es näher zu kommen.
Es mochten nur einige Minuten vergangen sein, als ein Ruf ihren Bewacher aufschreckte. Er öffnete den Pferch und zerrte Isabel mit sich zu einem Platz in der Mitte des Dorfes, den sie bisher nicht hatte sehen können. Vor einem Mann, der dort auf einem federgeschmückten Sitz saß, zwang man sie auf die Knie. Sie zitterte am ganzen Körper und spürte, wie es feucht an ihrem Rücken hinablief. Wenigstens war auch Noah da. Er kniete neben dem Mann, die Hände noch immer im Nacken gefesselt, aber offensichtlich unversehrt. Auf der nackten Haut seines Oberkörpers glänzte Schweiß.
Der Stammesfürst flößte Isabel vom ersten Moment an Furcht ein. Er war ein großer, kräftiger Mann mit tiefliegenden Augen, und die fast kreisrunden Eberhauer, die er in der Nase trug, gaben seinem kaffeebraunen Gesicht einen noch martialischeren Ausdruck. In seinen Händen hielt er Noahs Buschmesser, und auf dem Platz vor ihm lagen ihr bilum , Noahs blaues Band sowie die Früchte, die sie genommen hatten.
Er knurrte Noah etwas zu, der daraufhin stockend ein paar kehlige Worte äußerte. Der Häuptling schüttelte den Kopf, schien ihn nicht zu verstehen. Dann wiederholte er Noahs Worte in leicht veränderter Form, als müsse er ihm erklären, wie man richtig spricht, und nickte ihm mit einer knappen Kopfbewegung zu. Offenbar sollte Noah für ihn übersetzen.
»Das ist Korua-Kolta«, sagte Noah leise an Isabel gewandt. »Der Häuptling der Donowai. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann behauptet er, wir hätten ihn bestohlen.«
Isabel schluckte. »Hören Sie, Herr … Kolta«, begann sie, so ruhig sie es vermochte. »Es tut mir wirklich leid, falls wir …«
Sie verstummte, als der Häuptling sie mit einer Handbewegung zum Schweigen aufforderte. Ein stummer Kreis von Männern hatte sich um sie versammelt. In einigem Abstand fanden sich auch ein paar Frauen ein. Der Häuptling äußerte ein paar knurrende Töne, dann trat einer aus der Runde der Männer vor und zerrte Isabel nach oben. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als der Wilde ihr die zerfetzte Bluse vom Leib riss – und gleich darauf auch das Leibchen, das sie darunter trug. Mit Händen und Armen versuchte sie, ihre entblößten Brüste zu bedecken. Noch nie im Leben hatte sie sich so sehr gefürchtet. Und sich gleichzeitig so sehr geschämt.
Sie wagte nicht aufzublicken, stand zitternd und mit gesenktem Haupt da und betete stumm um Rettung aus ihrer Not. Dann sagte der Häuptling etwas. Langsam und gewichtig. Offenbar war es an sie gerichtet.
Jetzt hob sie doch den Kopf. Noah sah aus, als hätte er einen Schlag erhalten, in seinem Gesicht unverhülltes Entsetzen.
»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt, Noah?« Sie schrie fast vor Angst. »Werden sie … werden
Weitere Kostenlose Bücher