Im Herzen der Wildnis - Roman
rauche nicht mehr.«
»Er auch nicht.«
Verwirrt sah sie ihm dabei zu, wie er erneut in die Tasche griff. »Wer?«
»Na, er .« Hamish zog einen Stapel Papier hervor und hielt ihn ihr hin. »Denn er hat nur einen seiner vierzehn Briefe auf Zigarettenpapier gekritzelt. Den letzten.«
Ihr Herz klopfte bis zur Kehle. Sie konnte sich nicht rühren.
Behutsam nahm Hamish ihre Hand und schob den Stapel Briefe hinein. Shannons Blick fiel dabei auf Jays Handschrift.
Ich bin jetzt auf dem Weg nach Norden …
Mit einem jähen Stechen krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie rang nach Atem. »Wer hat Ihnen die Briefe gegeben?«
»Ein junger Mann.«
»Kennen Sie ihn?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, ich habe ihn bisher nur ein Mal gesehen. Ich bin ja nicht immer hier.«
»Woher kam er?«
»Aus der Lobby.« Hamish wies auf die Glastüren. »Ich glaube, er hat dort auf mich gewartet. Er kam heraus, als ich mir die Goldgräberausrüstung aufschnallte, gab mir die Briefe und ging.«
»Wohin?«
Hamish deutete über die Schulter in die Market Street. »Da lang. Er hat sich die Schaufenster angesehen.«
»War er allein?«
»Ja.«
»Hat er noch etwas gesagt?«
»Nur: ›Von Mr Chesterfield. Für Miss Ghirardelli.‹«
»Und wann war das?«
»Gestern, am späten Nachmittag.«
»Aber Sie wissen nicht, wer er ist.«
Hamish schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am. Aber er ist sehr großzügig, denn mit den Briefen hat er mir einen Hundertdollarschein in die Hand gedrückt. Das habe ich aber erst gemerkt, als er schon fort war.«
»Und Sie haben ihn danach auch nicht mehr gesehen?«
»Nein, Ma’am, tut mir leid.«
»Schon gut, Hamish. Vielen Dank.«
Er tippte sich an die Mütze. »Immer gern, Ma’am.«
Mit weichen Knien hastete sie durch die Lobby und betrat die Bar. Sie rutschte auf einen Hocker und bestellte beim Barkeeper einen Cappuccino mit Amaretto. Ihre Hände zitterten, als sie die zerknitterten Briefe vor sich ausbreitete. Hamish hatte recht: Der letzte Brief war auf einer aufgerissenen Packung Chesterfields geschrieben worden. Shannon zog den ersten Brief zu sich heran.
Geliebte Shania,
ich bin jetzt auf dem Weg nach Norden in die Wildnis. Ich habe keine Hoffnung mehr, Dich wiederzusehen. Aber dies ist kein Abschiedsbrief, denn ich möchte nicht, dass Du denkst, ich habe Dich vergessen. Ich werde Dir noch viele Briefe schreiben, wie in den vergangenen sechs Tagen, aber sie werden Dich nicht erreichen, und Du wirst sie niemals lesen. Shania, ich fühle mich einsam und verloren in dieser Weite, und ich weiß nicht, wie ich die kommenden Jahre ohne Dich überstehen soll. Wenn ich vor dem Einschlafen die Augen schließe, sehe ich Dich. Ich spüre Dich neben mir, ich rieche Deinen Duft, aber wenn ich meine Hand nach Dir ausstrecke, bist Du nicht da. Shania, Du fehlst mir so sehr! Was bleibt, sind die Erinnerungen an die schönste Zeit meines Lebens, die ich mit Dir verbracht habe. Ich erinnere mich an …
Der letzte Satz blieb unvollendet. Hatte Jay mit seinen Gefühlen gerungen, so wie sie jetzt? Ihr Unterleib zog sich fast schmerzhaft zusammen, als sie an ihn dachte, und ihr war, als fühlte sie eine Bewegung in ihrem Inneren. Als spürte sie einen zarten Herzschlag, doppelt so schnell wie ihren. Unwillkürlich legte sie die Hand beruhigend auf ihren Bauch.
Shania, ein guter Freund hat mir eben angeboten, meine Briefe an Dich nach San Francisco mitzunehmen und sie Hamish zu übergeben. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht. Wenn er in einigen Tagen zurückkehrt, werde ich ihm den ganzen Stapel mitgeben und weiter nach Norden ziehen.
Sie ließ den Brief sinken. Ein Freund?
Ian, es muss Ian sein!, dachte sie aufgeregt. Er ist zurück! Ian weiß, wo ich Jay finden kann! Ich muss zu ihm!
Sie schob einen Dollarschein unter die Cappuccinotasse und verließ die Bar. Mit quietschenden Reifen wendete sie den Duryea, überholte auf der Market Street mehrere Cable Cars, schlitterte auf dem Kopfsteinpflaster in die Leavenworth Street und raste den Nob Hill hinauf. An Brandon Hall vorbei sauste sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Die Lombard Street – na endlich! Als sie mit Schwung hinauffahren wollte, ging der Motor aus, und der Wagen rollte auf der steilen Straße rückwärts. Sie trat die Bremse, ließ den Duryea stehen und rannte die Stufen zu Ians Haus hinauf. Sie klopfte und wartete ab, bereit, Ian zu erklären, wer sie war: »Hallo, Ian. Ich bin Shania. Darf ich
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