Im Herzen der Wildnis - Roman

eingestürzten Kuppel hatten ihre Haut zerfetzt. Sie war blutüberströmt, schwach und bleich. Charlton hielt ihre Hand. Als er Shannon sah, stand er auf und trat neben Colin.
    Shannon blieb neben ihrer Großmutter stehen. Caitlin schloss die Augen und atmete langsam aus. Sie wirkte erleichtert, dass ihre Enkelin noch lebte. Shannon setzte sich neben Caitlin, beugte sich über sie und nahm ihre Hand.
    »Du bist gekommen«, hauchte Caitlin und streckte die andere Hand aus, um das Gesicht ihrer Enkelin zu berühren.
    Shannon wirkte beherrscht.
    Ronan haute ihm auf die Schulter. »Ich will auf deinen Arm, Daddy.« Als er ihn Colin abnahm, fragte der Kleine: »Warum ist Mommy so traurig? Was ist denn mit Granny?«
    Josh küsste sein von Staub und Tränen verschmiertes Gesicht. »Sie stirbt, Ronan. Mommy ist darüber sehr traurig.«
    »So wie bei Daddy?«
    Seine arglose Frage trieb Josh die Tränen in die brennenden Augen. »Ja, so wie bei Rob.«
    »Hat Mommy sie lieb?«
    Josh schluckte schmerzhaft und sah Colin an, der ebenfalls Tränen in den Augen hatte. »Ja, sie hat Granny lieb. Mommy kennt die Menschen, weißt du. Sie kann in ihr Herz schauen. Sie liebt sie, wenn sie stark sind, und sie beschützt sie, wenn sie schwach sind.«
    In diesem Augenblick umarmte Shannon ihre Großmutter, und Caitlin verzerrte das Gesicht. Nicht vor Schmerz, sondern vor Ergriffenheit. Wie viel hatte all die Jahre zwischen ihnen gestanden! Wie viel Leid, Schuld und Verbitterung!
    Schwach sank Caitlin zurück, ihr Atem rasselte. Ihr Blick fiel auf den Ring an Shannons Hand. »Sei stark, Shannon!«, hauchte sie und ergriff die Hand ihrer Enkelin. »Selbst wenn die Welt zusammenbricht, stehst du furchtlos in den Ruinen und baust alles wieder auf. Sei stark für sie alle. Sie brauchen dich.«
    Shannon wechselte einen Blick mit Colin, der ihr ermutigend zunickte. Dann sah er Josh an, und er begriff: Shannon war die Erbin. Ihr Bruder würde ihr zur Seite stehen.
    Sie strich Caitlin über das Haar, das vor Glassplittern funkelte. Dann umarmte sie ihre Großmutter, die mit einem erstickten Keuchen aufschluchzte, hielt sie fest und streichelte ihre Schulter. »Ich bin hier, Ma’am. Sie sind nicht allein.«
    Die Umarmung der beiden Frauen war so gefühlvoll, so bewegend, dass sie an ein Ringen erinnerte. Mit zuckenden Schultern begann Caitlin zu weinen. »… keine Angst mehr, Shannon.« Nach und nach wurde ihr Schluchzen leiser und verstummte. Am Ende war sie ganz ruhig.
    Behutsam ließ Shannon sie los und richtete sich auf.
    Caitlin war tot.
    Shannon schloss ihr sanft die Augen. Dann barg sie ihr Gesicht in beiden Händen und gab sich einen Augenblick ihrer Trauer hin. Anschließend stand sie auf und wandte sich um. Lange umarmte sie Colin, dann tröstete sie Charlton, der vor Trauer außer sich war.
    Schließlich kam sie zu Josh, um ihn und Ronan ganz fest in die Arme zu schließen. Bei ihren beiden Männern durfte sie endlich schwach sein. Sie lehnte sich gegen Josh und weinte.
    Ronan auf seinem Arm streckte seine Hand nach ihr aus. Als sie mit tränennassem Gesicht aufblickte, schmiegte er sich ganz eng an sie und warf die Arme um ihren Hals.
    »Was hast du, mein Süßer?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
    »Danke, Mommy.«
    Ihr Lächeln wirkte sehr traurig. »Wofür?«
    »Daddy und du …«
    Wie Josh kämpfte sie mit ihren Gefühlen. Er spürte, wie sie zitterte. Sie küsste Ronan zärtlich. »Freust du dich?«
    Der Kleine nickte. »Ich hab dich lieb, Mommy. Und dich, Daddy.« Ronan schaffte es, sie beide gleichzeitig zu umarmen.
    Shannon und er sahen sich an. Noch nie hatte Josh sich ihr so nah gefühlt wie in diesem Moment. »Ich liebe dich.«
    Sanft strich sie ihm über das Haar. »Ich liebe dich auch.«
    Sie umarmten und küssten sich.
    Wir gehören zusammen, dachte er gerührt. Für immer.
    Mit ihr in meinem Herzen bin ich glücklich.

 
    Norah Sanders hat auf ihren Reisen schon viel gesehen und ist besonders von der Landschaft und den Menschen an der amerikanisch-kanadischen Westküste zwischen Kalifornien und Alaska fasziniert. Ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte sie während einer Kalifornien-Reise. Wenn Norah Sanders nicht unterwegs ist, lebt sie in Süddeutschland.