Im Herzen der Wildnis - Roman
hereinkommen?«
Aber nichts geschah. Die Tür blieb geschlossen. War er nicht zu Hause? Sie klopfte erneut und wartete. Niemand öffnete ihr. Sie trat einige Schritte zurück und betrachtete das Haus. Alles schien unverändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war.
»Ian?« Kein Gesicht erschien am Fenster. Aber er musste da sein! Er hatte Hamish doch die Briefe gegeben! »Ian!«
»Er ist nicht da«, sagte eine helle Kinderstimme hinter ihr.
Shannon drehte sich um. Auf der Straße stand ein kleines Mädchen mit Zöpfen. Sie hielt eine Puppe im Arm. »Hallo.«
»Hallo«, antwortete die Kleine.
»Hast du gesehen, dass Mr Starling fortgegangen ist?«
Das Mädchen nickte heftig. »Er ist mit einem Auto weggefahren, das so aussah wie Ihres.« Die Kleine deutete auf den flotten Flitzer. »Ein schwarzes Auto mit weißen Reifen.«
Jays Duryea! »Weißt du, wohin er wollte?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat gesagt, er geht Santa Claus besuchen.«
Shannon war bestürzt. War Ian schon wieder abgereist?
»In Alaska?«, fragte sie nach.
Die Kleine verdrehte die Augen. »Nein, Santa Claus wohnt in einem Iglu am Nordpol. Das weiß doch jedes Kind. Ian hat meinen Brief an ihn mitgenommen.«
Wie niedlich! »Sieh mal einer an. Das ist aber nett von ihm.«
»Ich habe mir einen Bären gewünscht.«
»Einen Eisbären?«
Das Mädchen nickte, und ihre Zöpfe flogen. »Ian wollte dem Weihnachtsmann sagen, dass er mir einen bringen soll.«
»Und wann war das?«
Die Kleine überlegte kurz. »Vor einem halben Jahr.«
»Ist Ian noch nicht zurück aus Alaska?«
»Er ist am Nordpol!«
»Immer noch?«, fragte Shannon. »Er ist noch nicht zurück?«
»Nein.«
Ihr Herz sank. Ian war noch in Alaska. Sie zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür zu seinem Haus.
Im Wohnzimmer war alles unverändert. Franz Liszts Liebestraum lag noch auf dem Plattenteller. Sie zog das Grammofon auf und setzte den Tonarm auf die Rille der Schellackplatte. Während der ersten zarten Klavierklänge hockte sie sich auf das Ledersofa und zog den Stapel Briefe hervor.
Geliebte Shania,
Verzweiflung und Trauer zerreißen mir das Herz. Mein bester Freund ist heute gestorben, als er mir das Leben retten wollte. Nach Dir habe ich nun auch Ian verloren, der wie ein Bruder für mich war. Von jenen, die ich geliebt habe, ist mir nur noch Randy geblieben …
Ian ist tot!, dachte sie bestürzt und lauschte eine Weile auf die bewegende Melodie. Aber wer ist Randy? Der Freund, der die Briefe aus Alaska mitgebracht hatte?
Sie atmete tief durch. Ian war tot. Und Jay konnte in den nächsten Jahren nicht nach San Francisco zurückkehren. Seine Zeilen waren sehr gefühlvoll, aber auch hoffnungslos und traurig, und sie trafen sie ins Herz.
Der Liebestraum verklang im Rauschen der Schellackplatte. Mit brennenden Augen las sie weiter. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass ihr Liebestraum noch nicht beendet war. Dass ihre kleine Schneekugelwelt noch nicht zerbrochen war. Dass Jay schon im nächsten Brief schrieb, er werde zu ihr zurückkehren. Aber das schrieb er nicht. In keinem seiner Briefe versprach er, zu ihr zurückzukehren.
Mit zitternden Fingern glättete sie die aufgerissene Chesterfields-Packung und las seine letzten Zeilen.
Geliebte Shania,
ich schreibe Dir nun zum letzten Mal, und das Gefühl der Endgültigkeit lähmt mich. Ich ringe um Worte, meine Hände zittern, und ich kämpfe mit den Tränen. So viele Gefühle! So viele schöne Erinnerungen an eine Zeit der Freude! Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Dich vor mir. Wenn ich horche, höre ich Dein Lachen. Und wenn ich einschlafe, träume ich von Dir. Ich träume, dass ich Dich umarme und festhalte. Dass wir uns lieben, zärtlich und leidenschaftlich. Dass wir uns in den Armen liegen, uns eng aneinanderschmiegen und uns nie wieder loslassen. Nach diesen Augenblicken voller Liebe und Glück sehne ich mich am meisten. Aber wenn ich aufwache, bist Du nicht da, und ich bin traurig. Verzweifelt versuche ich, mich an jeden Augenblick mit Dir zu erinnern, an Dein Lachen und Dein Weinen, an Deine Lebensfreude, aber auch an Deine Traurigkeit, als Dein Bruder mit dem Tod rang – diese Momente haben unserer Liebe eine Tiefe verliehen, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Was habe ich alles verloren, als Du mich verlassen hast! Was habe ich mit meinen Worten zerstört! Es tut mir alles so leid! Verzeih mir!
Ich hoffe, Du bist glücklich. Ich bin es nicht. Du fehlst mir so. Ich
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