Im Herzen der Wildnis - Roman
niedlicher kleiner Bengel. Nicht, dass er geschrien hätte! Nicht Rob! Er hat mich angestrahlt und fröhlich gegluckst. Und dann hat er mit seiner Faust meinen Finger umschlossen und nicht mehr losgelassen.«
Shannon lächelte. »Und Sie haben Ihr Herz verloren.«
»So könnte man sagen. Ich habe ein Hemd zerschnitten und ihm daraus eine frische Windel gemacht. Anschließend habe ich ihn mit Ziegenmilch gefüttert und ihn in einen Korb gelegt, mit dem ich Opale aus dem Stollen geholt hatte. Ich wusste nicht, was ich mit einem Kind anfangen sollte, aber ich hatte keine Ahnung, wer Robs Mutter war. Ich konnte ihn nicht zurückbringen, und ich wollte es auch nicht. Ich hatte den Kleinen lieb gewonnen.« Tom lächelte verträumt, als er sich erinnerte. »Nach all meinen Misserfolgen bei der Goldsuche, im Weinanbau und auf der Schaffarm, nachdem ich immer wieder alles verloren hatte, habe ich plötzlich etwas gewonnen. Kein Gold, keinen Ruhm und keinen Reichtum, sondern einen Sohn. Einen kleinen Menschen, der mein ganzes Leben umkrempelte und der alles infrage stellte, an was ich zuvor geglaubt hatte. Plötzlich war Rob das Wichtigste in meinem Leben. Und das hat sich bis heute nicht geändert.« Tom grinste verschmitzt. »Er hält mich immer noch ganz schön auf Trab.«
»Wie …«
Shannon unterbrach sich, als der Butler den Raum betrat: »Sir, ich bitte um Entschuldigung. Aber da ist ein Gentleman, der Miss Tyrell sprechen möchte. Er sagte, es sei dringend.«
Er ist gekommen!, dachte sie aufgeregt. »Hat er seinen Namen gesagt?«
»Mr Robert Wilkinson.«
Die Enttäuschung war ihr wohl anzusehen, denn Tom runzelte besorgt die Stirn. »Wer ist das?«
»Unser Butler«, murmelte sie bestürzt. Sie musste an Skip denken, den sie vor wenigen Tagen besinnungslos in der Badewanne gefunden hatte. Als sie vorhin aufgebrochen war, hatte er sich gerade in den Club verabschiedet. »Es muss etwas passiert sein. Würden Sie mich entschuldigen?«
Der Butler erwartete sie an der Tür der Suite. »Bitte verzeihen Sie, Ma’am.« Er zögerte. »Mr Skip ist im Club. Ich erhielt einen Anruf …«
Shannon stockte der Atem. »Wie geht es ihm?«
»Sehr schlecht, fürchte ich.«
O Gott, Skip! Nicht schon wieder! »Wer weiß noch davon?«
»Niemand, Ma’am. Ich hielt es für besser, Stillschweigen zu wahren. Ich habe um einen freien Abend gebeten.«
»Danke, Mr Wilkinson. Ich weiß das zu schätzen.«
»Ma’am.«
»Warten Sie einen Augenblick. Ich muss mich von Mr Conroy verabschieden – wir waren zum Dinner verabredet. Dann fahren wir in den Club.«
Shannon kehrte zu Tom zurück, der ihr erwartungsvoll entgegenblickte. »Sie sehen blass aus, Shannon.«
»Mein Bruder Skip hatte einen Unfall.«
»Das tut mir leid. Wie geht es ihm?«
»Ich muss sofort zu ihm.«
»Selbstverständlich.«
»Können wir das Abendessen verschieben?«
»Wie wär’s mit morgen Abend? Ich habe zwar eine Einladung, aber da werde ich mich nur kurz blicken lassen.«
»Danke, Tom. Danke für Ihr Verständnis und Ihre Freundschaft.«
»Schon gut. Und das Foto?«
»Morgen.« Shannon überlegte. »Ich lasse die Kamera hier.«
»Ist gut.«
»Ich hole Sie gegen halb neun ab. Mit dem flotten Flitzer.«
4
Beunruhigt stieg Shannon in den Duryea, während Mr Wilkinson mit der Kurbel den Motor startete. Sobald er neben ihr saß, gab sie Gas und wendete in einem gewagten Manöver. In flottem Tempo fuhr sie die Market Street hinauf.
Mr Wilkinson blickte sie mit aufgerissenen Augen von der Seite an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie Auto fahren können.«
»Ich bin in Hongkong Rennen gefahren.« Die Beschreibung der rasanten Abfahrt über die schmale und gewundene Straße vom Victoria Peak hinunter zum Hafen ersparte sie ihm, denn er klammerte sich auch so schon am Ledersitz fest. Sie schaltete in den zweiten Gang und beschleunigte, um ein Cable Car auf der rechten Spur zu überholen. »Wollen Sie mal sehen, wie flott dieser kleine Flitzer ist?«
Der Butler schwieg verbissen.
Noch im zweiten Gang bog Shannon in die Stockton Street. Als sie den Duryea kurz darauf an den Straßenrand fuhr, stieß Mr Wilkinson vernehmlich die Luft aus.
Ein schönes Auto, dachte sie zufrieden, als sie aus dem Wagen kletterte. Dann folgte sie Mr Wilkinson in den Club, einst von Journalisten des San Francisco Chronicle gegründet, für den sie hin und wieder schrieb. Hier trafen sich Redakteure, Schriftsteller und Künstler, aber auch Geschäftsleute und Unternehmer aus
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