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Im Herzen der Wildnis - Roman

Im Herzen der Wildnis - Roman

Titel: Im Herzen der Wildnis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norah Sanders
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Kurbel zog er das Grammofon auf, das Ian aus Fort Yukon mitgebracht hatte. Ian hatte zwei Jahre dort gelebt, Josh drei.
    Die Musik begann mit einer zarten und wehmütigen Melodie, die ganz seiner Stimmung entsprach, um sich nach zweieinhalb Minuten zu einem großartigen Fanfarenklang aufzuschwingen, der Josh wie so oft mitriss. Während des endlosen dunklen Winters hatten Ian und er fast jeden Abend Musik gehört, während sie lasen oder einfach nur redeten. Josh kannte jeden Kratzer auf Ians Schellackplatten. Das Knistern und Knacken gehörte für ihn untrennbar zu Beethovens und Tschaikowskys Sinfonien.
    Les Préludes war sein Lieblingsstück. Wer kochte und abwusch, durfte abends die Platten aussuchen – sie wechselten sich immer ab. Sie hatten einen ganzen Stapel Schellacks dabeigehabt, aber auch viele Bücher aus Ians Regal. Auch Jane Austens Stolz und Vorurteil hatte sich in ihre Hütte verirrt. Ian hatte den Roman gegen Lebensmittel eingetauscht. Bücher waren in Alaska so selten und so begehrt, dass selbst ein italienisches Wörterbuch oder ein französisches Modejournal, in dem Damen abgebildet waren, eine beliebte Tauschware darstellte. Die Winternächte in Alaska waren endlos lang, denn die Sonne stieg nur gegen Mittag kurz über den Horizont. Als Josh alle anderen Bücher gelesen hatte, stand nur noch der Roman von Jane Austen auf dem Regalbrett. Er würde nie zugeben, dass er das Buch gelesen hatte, aber es hatte ihn angerührt. Ian hatte ihn derart veralbert, dass Josh das Buch nach ihm warf. In Alaska hatten sie ihren Spaß gehabt!
    Während die Melodie wieder ruhiger wurde, schob er einen Stapel National Geographics zur Seite, hockte sich auf das Ledersofa und trank einen Schluck Bier aus der Flasche. »Hey, Cheechako!«, rief er. »Soll ich einen Suchtrupp losschicken?«
    Die Platte hatte einen neuen Kratzer bei Minute sechs, als die Melodie weicher wurde, beschwingter. Josh setzte die Flasche noch einmal an, dann zog er sich die Schuhe aus, legte sich auf das Sofa und lauschte mit geschlossenen Augen der wundervollen Musik, die ihn an Alaska erinnerte. Das leise Trillern der Melodie war wie das fröhliche Vogelgezwitscher im Frühling, und die langsame Stelle bei Minute sieben klang wie eine gemächliche Schlittenfahrt mit den Huskys auf dem gefrorenen Yukon. Minute acht: der dramatische Knall, mit dem Ende Mai das Eis brach und die Schollen stromabwärts zu treiben begannen. Minute zehn: Das Zupfen der Harfe war das Tropfen des Schmelzwassers vom Dach ihrer Hütte. Schon konnte er die Wärme der Sonne auf der Haut spüren, obwohl der Wind auch im Juni noch eisig sein konnte.
    Er sah das Tanana Valley mit den schneebedeckten Gipfeln der Alaska Range, die über dem Nebelschleier zu schweben schienen. Das weite Tal war ein Meer von leuchtend roten Blüten, und es sah aus, als stünde das Gras zwischen den Fichten lichterloh in Flammen …
    Mit einem dumpfen Knall landete ein frisch bezogenes Kissen auf seinem Bauch, gefolgt von einer Decke, und Josh schrak aus seinen Träumereien.
    »Bed and breakfast. Das Bier wird nicht extra berechnet.« Ian, jetzt in Jeans und Pullover, ließ sich in den Sessel fallen und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche.
    »Das nenn ich echte Freundschaft.« Josh stopfte sich das Kissen in den Nacken.
    »Also, was ist los? Es ist gar nicht deine Ernennung, oder?«
    »Nein.«
    »Dachte ich’s mir doch. Es ist sie .«
    »Ich hab sie eben gesehen. Sie sauste mit ihrem Duryea an mir vorbei, den Nob Hill herunter und dann in die Pacific Avenue. Als sie Pacific Heights erreichte, hab ich sie aus den Augen verloren.«
    »Tut mir leid, mein Junge.«
    »Ich suche das ganze Hotel nach ihr ab, kann sie einfach nicht vergessen, und dann fährt sie einfach so an mir vorbei. Ich sehe sie, aber sie sieht mich nicht. Und weg ist sie.«
    Ian nickte langsam. »Wie fühlst du dich?«
    »Weißt du noch, wie ich im letzten Winter auf dem zugefrorenen Tanana durchs Eis gebrochen bin und du mich mit dem Huskygespann aus dem Wasser gezogen hast?«
    »Sicher.«
    »Ich fühle mich wie erfroren, und eine eisige Strömung reißt mich mit sich fort. Mein Herz klopft wie wild. Und die Angst, dass ich sie nie wiedersehen werde, raubt mir den Atem.«
    Ian erwiderte nichts. Sein Freund wusste genau, wann er ihn reden lassen musste. Ian und er kannten sich, wie zwei Freunde sich nur kennen konnten. Sie hatten alles miteinander geteilt, die Hütte, die Mahlzeiten, die Bücher, die Musik, die tiefsten

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