Im Herzen der Wildnis - Roman
schön und tröstlich.
»Sie haben eine halbe Stunde!«, ermahnte sie ein Lieutenant, der bei ihnen blieb, in militärisch knappem Tonfall.
Shannons Blick fiel auf seine Fesseln. »Bitte nehmen Sie meinem Bruder die Ketten ab, Lieutenant.«
»Vorschriften, Ma’am«, schnarrte der.
Sie nickte langsam, dann blickte sie ihn durch das Gitter an. »Wie geht’s dir? Du siehst traurig aus.«
»Vor einer Viertelstunde habe ich ein Telegramm aus Washington erhalten. Ich werde den Rest meines Lebens auf diesem Felsen verbringen.«
Erschüttert fragte sie: »Was ist passiert?«
»Frag deinen Vater.«
Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. »War er nicht auch dein Vater?«
Er schnaubte, und es klang wohl sehr verbittert, denn sie steckte die Finger durch das Gitter, um ihn zu berühren. Er zog seine Hand nicht fort.
»Du weißt es noch nicht?«, fragte sie bestürzt. »Sie haben es dir nicht gesagt?«
»Was?«
Shannon antwortete nicht sofort. Ihr Blick war düster. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, ohne dir wehzutun …«
»Was, Shannon?«
»Aidan …« Ihre Finger berührten seine Hand. »Dad ist tot.«
Plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen, und seine Kehle wurde eng. »Was sagst du?«
»Er starb an Weihnachten an einem Schlaganfall.«
Aidan musste tief durchatmen, bevor er einen Ton herausbrachte. »Warst du dabei?«
»Nein, Aidan. Er starb wenige Stunden vor meiner Ankunft in San Francisco.« Shannon streichelte ihn sanft und tröstend.
»Wir haben uns gestritten«, brachte er gequält hervor.
»Ich weiß, Aidan.«
»Wir sind unversöhnt auseinandergegangen …«
»Schhht!«
»… und jetzt ist er tot.« Er konnte seine Gefühle nicht mehr zurückhalten, und auch Shannon fühlte eine Träne auf ihrer Wange. Sie wartete geduldig, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Aidan, was ist zwischen euch geschehen?«
Mit brennendem Blick funkelte er sie an. »Hat Lady Macbeth denn nichts erzählt?«
»Die Auswirkungen deines Prozesses auf die Geschäftsentwicklung kenne ich bis zum letzten Dollar. Ebenso die verächtlichen Kommentare sämtlicher Onkel, Brüder und Cousins.«
Er lachte, und es klang verletzt und sehr verbittert.
Shannon musterte ihn aufmerksam. »Ich möchte aber von dir wissen, was geschehen ist. Wenn du darüber reden willst …«
Er zögerte, aber sein Schweigen schien sie nicht zu beunruhigen. Sie spürte wohl, dass er mit sich rang. »Ich bin jetzt hier, Aidan«, sagte sie so sanft und so herzlich, dass er erneut mit den Tränen kämpfte. »Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder eine Besuchserlaubnis erhalten werde oder wann …«
»Zwanzig Minuten, Sir!«, verkündete der Lieutenant.
Aidan vertraute sich Shannon an, die plötzlich nicht mehr seine kleine, sondern seine große Schwester war. Sie kommentierte nicht, wertete nicht und ließ ihn einfach reden. Er erzählte ihr von dem Krieg gegen Spanien, bei dem es um die Vorherrschaft auf Kuba und den Philippinen ging. Während Hearst mit seinen Schlagzeilen die USA in den Krieg trieb, um mit grausigen Berichten von der Front die Auflagen seiner Zeitungen zu erhöhen, rüstete Caitlin nach der Landung der amerikanischen Truppen zum Kampf um die Vorherrschaft im Welthandel. Und auch Charlton scheute sich nicht, mit Blut an seinen Händen Geld zu verdienen.
»Der Krieg ist ein schmutziges Geschäft«, sagte er. »Millionen Dollar, Tausende Soldaten – im Vergleich zu den möglichen Gewinnen ist die Zahl der Verluste gering. Unser Cousin Rory, der für den Senat kandidieren sollte und nun durch Eoghan ersetzt wird, ist auf Kuba gefallen. Ein Held. Der andere, der Versager, der Feigling, der noch lebt, weil er keine Moral und Ehre kennt, bin ich …«
»An dem Tag, als du den Marschbefehl für die Philippinen erhalten hast, hast du um deinen Abschied nachgesucht. Diese Entscheidung hat dich deine Ehre als Offizier und Gentleman gekostet. Du hast dich mit Dad zerstritten, und am Ende lautete das Urteil lebenslänglich Alcatraz.«
»Hat Caitlin gesagt, warum ich mich so entschieden habe?«
Shannon nickte. »Das Wort ›Feigheit‹ war zwischen den Zeilen herauszuhören. Und ihr Tonfall war verächtlich.«
Aidan schüttelte den Kopf. »Glaubst du, dass ich feige bin?«
»Glaubst du, ich wäre dann hier, um dir beizustehen?«
»Nein«, gestand er leise.
»Doch.« Als er sie überrascht ansah, sagte sie: »Ich wäre auch dann gekommen.«
Beschämt senkte er seinen Blick.
Shannon berührte
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