Im Herzen der Wildnis - Roman
er sie von der Seite an, aber sie würdigte die Pralinen keines Blickes. Tatsächlich sah sie ihn an.
Er stellte die Kamera ab und rückte ihr einen Barhocker zurecht, auf dem sie trotz des langen Rocks erstaunlich flott Platz nahm. Dann setzte er sich neben sie und winkte den Barkeeper heran. »Wir würden gern einen Kaffee trinken.«
»Servieren Sie auch Cappuccino?«, fragte die junge Dame.
»Ja, Ma’am. Mit Amaretto?«
Josh hob die Augenbrauen. »Was ist das?«
»Lassen Sie sich überraschen!« Ihre Augen lachten.
»Ich vertraue Ihnen. Ich nehme dasselbe.«
»Sehr wohl, Sir.« Der Barkeeper verschwand.
Sie blickte sich in der Bar um. »Ziemlich voll hier.«
»Sie sollten mal herkommen, wenn die Schiffe aus Alaska im Hafen anlegen. Die Goldgräber zeigen ihre Nuggets und zahlen ihre Drinks mit Goldstaub.«
»Kommen Sie oft hierher?«, fragte sie, während sie den Trauerschleier über ihren Hut schob.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kurz vor Weihnachten aus Alaska zurückgekehrt.«
»Wie lange waren Sie dort?«
»Drei Jahre. Die meiste Zeit davon im Busch, in der Wildnis nördlich des Yukon. Die einsame Tundra jenseits des Arctic Circle ist eine überwältigend schöne Landschaft.«
Sie erwiderte seinen forschenden Blick. »Eine Liebeserklärung an Alaska?«
Josh konnte den Blick nicht von ihr lassen, und sie schien zu wissen, dass er nicht nur von Alaska sprach. »Ich find’s da wunderschön.«
Sie sagte nichts darauf.
Wie viele derartige Komplimente sie wohl schon gehört hat? Josh, du warst zu lange in der Wildnis. Und du bist dabei, es gründlich zu vermasseln.
»Sagen Sie, woher kennen Sie … wie heißt das noch?«
»Cappuccino?«
»Ja, genau. Ich bin sicher, dass es so etwas in den italienischen Restaurants an der Fisherman’s Wharf nicht gibt.«
»Nein, bestimmt nicht«, lächelte sie, und in ihren Augen tanzten die Lichtfunken. »Ich war ein halbes Jahr in Italien.«
»Sprechen Sie italienisch?«
»Ein bisschen.« Sie schmunzelte. »Überlebenstraining.«
»Wofür?«
»Für meine Reisen.«
Sie war anders als jede andere Frau, die ihm bisher begegnet war: selbstbewusst, ohne stolz oder trotzig zu sein. Ihr Eigensinn gefiel ihm. Sein Blick huschte verstohlen zu ihrer linken Hand. Kein Ring.
Na los, Josh, trau dich!
Er atmete tief durch. »Sie reisen allein?«
»Ja.«
»Ohne einen Beschützer?«
»Der mir die Tür aufhält, mir in den Mantel hilft und meinen Koffer trägt, um mir zu zeigen, wie schwach und abhängig ich bin? Der Lamm mit Mintsauce bestellt, obwohl ich lieber Coquilles Saint-Jacques à la Normande essen würde? Der Wein bestellt, den ich nicht mag? Der sich nach dem Essen zu Brandy und Zigarre in den Salon zurückzieht, um zu vollenden, was Gott begonnen hat?« Herausfordernd sah sie ihn an. »Schockiert?«
»Betroffen.«
Sie warf einen Blick auf seine linke Hand, und er beobachtete sie dabei. Ihre Blicke begegneten sich.
Absoluter Irrsinn!, dachte Josh. Sie ist eine Fremde!
Josh holte das Päckchen Chesterfields hervor und fingerte eine Zigarette heraus. »Provozieren Sie gerne?«
An Stelle einer Antwort zog sie ihren Fume-Cigarette heraus und warf einen Blick auf seine Chesterfields.
Er bot ihr eine Zigarette an, gab ihr Feuer und deutete auf ihre Kamera. »Sind Sie Fotografin?«
Warum sie einen Moment zögerte, begriff er nicht. Denn schließlich nickte sie.
»Beschreiben Sie mir Ihr schönstes Foto!«
»Ich mache keine schönen Fotos. Ich fotografiere nicht die Pyramiden bei Sonnenuntergang oder das Tadsch Mahal im Morgennebel.«
»Was sonst?«
»Menschen.«
»Wo?«
»In den Slums von London, zum Beispiel.«
»Beschreiben Sie mir Ihr bestes Foto!«
Sie überlegte nicht lange. »Ein alter Mann mit weißem Bart sitzt in seiner zerschlissenen Jacke auf einem Holzstuhl vor der Tür seines Hauses. Seine Hose ist zerrissen, und er trägt keine Schuhe. Er hat keinen Penny in der Tasche, aber sein Lächeln ist ergreifend. Der alte Mann hat mich tief beeindruckt.«
»Und Sie sind nicht leicht zu beeindrucken«, vermutete er.
Unwillkürlich richtete sie sich auf, als nähme sie Haltung an, zog an der Zigarette und stieß den Rauch langsam wieder aus. »Nein.« Sie zögerte einen Herzschlag lang. »Mein Vater hat mich erzogen wie einen Sohn. Es war nicht immer leicht, seinen Erwartungen gerecht zu werden. Wenn ich vom Pferd fiel, schwang ich mich sofort wieder in den Sattel. Und wenn mich der Rückstoß der Winchester zu Boden warf, bin ich wieder
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