Im Herzen Rein
deren Klingelknopf »Menzel« stand. Er war umsichtig, der Herr Dr. Mendel. Sie zogen die Schutzanzüge über, die Marius mitgebracht hatte, und betraten die Wohnung durch eine normale Holztür, die nicht schalldicht verstärkt war. Sie standen in einem kleinen Flur, von dem rechts ein winziges Bad mit Dusche und Toilette abging. Daneben war eine Stehküche und geradeaus der Wohn-Schlaf-Raum. Auf dem großen Bett lag offen das Bettzeug, aber ohne sichtbare Spuren. Davor stand ein Couchtisch mit zwei Sesselchen, gegenüber ein Fernseher mit DVD-Player und mehreren DVDs: Pornos mit Fesselungsszenen. In einer Schublade fand Paula Handschellen und Ketten. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen Klebeband und Stricke. Beide Opfer hatten Fesselungsspuren von Stricken um die Hand- und Fußgelenke. Der Durchmesser der Stricke entsprach der Breite der Markierungen - jedenfalls nach Augenmaß. Das würde genau untersucht werden. Spuren von Klebeband waren zumindest um den Mund von Johanna Frenzi gefunden worden. An diesen Stuhl vor der Wand könnte Mendel die beiden Frauen in der gewünschten Haltung gefesselt haben.
»Es steht kein Rollstuhl herum«, sagte Marius.
»Den hat er doch im Kino gelassen.«
»Meinst du, er brauchte keinen weiteren?«, versuchte er sich grinsend aus der Affäre zu ziehen.
Paula ging darauf nicht ein.
Das Team und die Spurensicherung kamen, und Paula wies sie an, alle Nachbarn zu befragen, alle Spuren zu sichern und die Fesselungsgegenstände in der KT analysieren zu lassen.
»Vergesst den Müll nicht«, sagte sie, bevor sie die Wohnung verließ.
Marius nickte. Vielleicht fanden sie dort die Ringe, mit denen Johanna Frenzi die Brandwunden beigebracht worden waren. Alle waren überzeugt, dass dies der Tatort war.
42
Chris legte den Hörer auf. Es war also eindeutig Mendel, sie hatten seine Absteige gefunden. Der Täter saß hinter Gittern.
Sie freute sich richtig, dass es nicht Heiliger war. Seit der Verhaftung Mendels hatte sie der Gedanke bedrückt, ihm Unrecht getan zu haben. Gerade ihm, der es seit der Kindheit so schwer gehabt hatte, der hart um eine Existenzberechtigung kämpfen musste und es dann endlich doch geschafft hatte. Sie verstand das. Für sie war »endlich geschafft« nicht irgendein Ausdruck. Für sie war »Großes zu schaffen« ein Lebenssinn. Er hatte es also endlich geschafft, war dann eines Morgens die Spree entlanggelaufen, hatte eine Menschenansammlung gesehen, die etwas bestaunte, was er für eine Installation hielt, und mittendrin eine Frau, die ihn faszinierte. In seiner fordernden und ungestümen Art sprang er über die Absperrung und drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. Was er sich nicht hatte träumen lassen: dass sie ihn aufgrund seines auffälligen Gehabes für den Mörder halten würde.
Sie verstand gut, wie viel Kraft und Durchhaltevermögen es ihn gekostet hatte, seinen Weg zu gehen, auf vieles zu verzichten, um etwas zu erschaffen, das ihn befriedigte und mit dem er Anerkennung fand. Durch einen bösen Zufall hätte er nun alles verlieren können. Sie hatte einmal Ähnliches erlebt. Sie sollte vor der ganzen Schule die Pathétique von Beethoven vorspielen, hatte sich sehr darauf gefreut, wurde dann aber plötzlich davon beurlaubt. Es hieß, sie habe sich an einem Schülerdrogenring beteiligt. Was in keiner Weise stimmte. Sie hatte helfen wollen, den Ring aufzudecken, und war in ein großes Missverständnis geraten. Sie würde nie vergessen, wie schmerzlich diese Ungerechtigkeit war.
Abgesehen davon, dass sie ihn faszinierend fand, hatte er auch etwas in ihr berührt. Er hatte sich verletzbar und angreifbar gemacht. Er hatte etwas riskiert, um sie kennenzulernen.
Im Nachhinein konnte sie nicht mehr verstehen, dass ausgerechnet sie Heiligers Stolperstein hätte werden können. Jetzt erschien es ihr unverständlich, dass sie sich in diese Angst vor ihm als ihrem möglichen Mörder hineingesteigert hatte.
Sie musste sich bei ihm entschuldigen. Und sie war neugierig, wie er darauf reagieren würde.
Sie rutschte so tief in die Badewanne, dass gerade noch Mund, Nase und Augen aus dem Wasser lugten. Die Schwere wich aus ihrem Körper, langsam löste sich ihre Angst. Der Horror war vorbei. Sie würde Spanisch lernen und Tennis spielen und wieder mehr Zeit für Kunst haben. Gerade in Berlin war die Kunstszene so aufregend. Sie würde wieder lachen und flirten. Vor Gericht würde sie zweimal lebenslänglich fordern und Hubertus mit seiner These, das Morden
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