Im Herzen Rein
»um das Personal zu befragen.«
Marius sagte sofort: »Ay, ay, Boss.«
Als er starten wollte, bat Paula ihn, noch zu warten. Sie wollte die Straße einen Moment auf sich wirken lassen. Vielleicht hatte der Täter Silvia Arndt hier beobachtet. Vielleicht hatte er dort drüben gestanden und war ihr zum U-Bahnhof Fehrbelliner Platz und bis ins Kino gefolgt. Oder war sie zu Fuß gegangen? »Okay«, sagte sie, und Marius fuhr los.
Paula klappte die Mappe auf, in der drei Fotos lagen, die sie aus der Wohnung mitgenommen hatte. Auf dem ersten war Silvia Arndt etwa neunzehn, vielleicht zur Zeit ihres Abiturs, das nächste zeigte sie vor einer Bücherwand als Bibliothekarin. Auf dem dritten stand sie mit buntem Halstuch an der Reling eines Spree-Dampfers, im Hintergrund das Bundeskanzleramt. Ihre Augen strahlten.
Dieses Foto berührte Paula besonders, denn später hatte Silvia auch in der Nähe des Kanzleramtes auf der Bank gesessen. Doch da war sie tot, und ihre Augen blickten glasig.
Marius hielt vor dem Kino auf dem Kurfürstendamm.
»Ich sehe mir einen romantischen Film im Filmpalast an«, waren Silvias letzte Worte im Büro gewesen. Hatte sie den Liebesfilm noch gesehen?
Als Paula ausstieg, rief Chris an. »Ich habe dir schon zwei Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen. Jetzt sitze ich in deinem Hongkong-Laden - völlig allein! An den großen Tischen mit den vielen Stühlen sitzt kein einziger Gast. Ist das deine Vorstellung von einem gemütlichen Abend?«
Paula musste lachen. Sie wusste, dass der Laden oft leer war, aber das Essen war gut, die Bedienung freundlich, und im Hintergrund spielte immer angenehme Musik. »Bleib ruhig da«, sagte sie. »Ich komme gleich, dann sind wir schon mal zu zweit.«
Sie entschuldigte sich bei Marius. »Ich habe nicht gewusst, dass Chris schon so früh anrufen würde. Ich bin mit ihr im Hongkong Garden um die Ecke verabredet.«
»Dann komme ich später nach«, sagte Marius trocken, »ihr könnt mir schon mal Tandoori aus dem Backofen bestellen.«
»Das ist indisch! - Sag mir gleich Bescheid, wenn hier jemand Silvia Arndt wiedererkennt. Ich lasse mein Handy an.«
Als sie davonging, spürte sie, dass er ihr nachschaute. Es war ihr angenehm. Sie fühlte sich gut in seiner Gegenwart. Und er war nicht nur ein zuverlässiger Mitarbeiter, immer freundlich und ausgeglichen, sondern verstand es auch, die Dinge aus ihrer Sicht zu sehen.
Das Restaurant war vollkommen leer. Chris hatte sich auch noch in die hinterste Ecke gesetzt. Allein mit einer Tasse Tee.
»Hallo«, sagte Paula grinsend, »da können wir ja in Ruhe reden.«
»Und es hört wirklich keiner mit«, schmunzelte Chris. Als sie sich setzten, läutete Paulas Handy. Es war Ulla. »Ein Jonas Schumann hat angerufen.«
»Was wollte er?«
»Hat er nicht gesagt. Es klang privat.«
»Ja, ist es auch. Ich wollte ihn eigentlich anrufen, aber wenn er sich noch mal meldet, sag ihm bitte, ich habe keine Zeit. Ich habe einen schwierigen Fall.«
»Okay. Mach ich.«
»Wer war das?«
Paula lachte. »Meine Jugendliebe.«
»Und? War er dein Erster?«
»Nein. Es war gar nichts. Ich weiß nicht einmal, ob er mich mochte. Es war eine einseitige Schwärmerei.«
»Dann hat er dich wenigstens nicht gekränkt.«
Der Kellner wartete, und Paula bestellte Hongkong-Ente und ein Bier, Chris nahm ein vegetarisches Gericht und noch einen grünen Tee.
»Er war zwei Klassen über mir, und nach dem Abi ging er nach Köln, Medizin studieren. Ich hatte ihn längst vergessen, da klingelt das Telefon, und er ist am Apparat. Ich war mitten in den Abi-Vorbereitungen, und ich brauchte jede Minute zur Arbeit, aber als ich seine Stimme hörte und er mich zu einer Party einlud, habe ich zugesagt. Ich habe alles stehen und liegen lassen und mich nur noch darauf vorbereitet. Zum Glück war ich gut drauf an dem Abend, hatte nach außen die richtige Distanz, um locker flirten zu können, aber innerlich sah das natürlich anders aus. Ich war zu schüchtern, um ihn zu fragen, warum er ausgerechnet mich eingeladen hat.«
»Wahrscheinlich aus Angst, verletzt zu werden.«
Paula lachte. »Stimmt. Ich hätte mich nicht davon erholt, wenn er gesagt hätte, Renate Nowicki konnte nicht. Das war nämlich die, die er später beinahe geheiratet hätte. Viel gesprochen haben wir ohnehin nicht, die meiste Zeit haben wir getanzt. Er war einer der besten Tänzer der Schule, und ich schwebte im siebten Himmel. Es war das einzige Mal, dass ich mit ihm ausgegangen bin.
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