Im Herzen Rein
Nacht in ihren Erinnerungen aufgetaucht waren, als sie sich schlaflos hin und her wälzte. Sie würde auch Hubertus Bach nichts von ihren Verfolgungsängsten sagen, aber sie überlegte, ihn anzurufen, um ihn nach seiner generellen Einschätzung des Joggers zu fragen.
Als sie zu Hause war, rief sie ihn an.
Sie erreichte ihn auf dem Handy. Er bat sie, zurückrufen zu dürfen, weil er gerade auf der anderen Leitung ein Gespräch mit einem Kollegen in Boston habe.
Chris blieb am Schreibtisch sitzen und wartete. Sie begann Dreiecke und Quadrate zu malen, immer mehr, und malte über das ganze Blatt alles akribisch zu einem Spinnennetz aus, bis endlich das Telefon klingelte.
Sie entschuldigte sich, dass sie ihn abends störe, sie wolle sich für seinen Tipp wegen der Obduktion bedanken - Posch sei sehr sorgfältig gewesen.
»Hat er etwas von sexuellem Missbrauch gesagt?«
»Wir warten noch auf die Analyse der Abstriche. Bisher haben wir keine Anhaltspunkte.«
»Wenn sich da nichts ergibt, liegt der Akzent auf der Präsentation.«
»Was meinst du damit?«
»Dann liegt der größte Energieaufwand in der Art des Tötens und der anschließenden Zubereitung der Leiche und nicht so sehr in dem, was vorausgegangen ist.«
»Das musst du mir genauer erklären.«
»Wenn ich sage Präsentation, vergleiche ich ihn mit einem Bildhauer. Die hauptsächliche Anstrengung liegt da nicht in der Beschaffung des Materials, sondern im Bearbeiten.«
»Beschaffung des Materials wäre hier das Beschaffen des Opfers?«
»Ja, aber sein Hauptinteresse liegt nicht im Jagen und Töten, sondern im Verwirklichen seiner Vision. Nämlich, wie die Frau auszusehen hat - bis in jede Einzelheit, bis zu diesem Pappbecher, von dem du mir erzählt hast. Er weiß genau, wie die Tote aussehen muss, wie und wo sie sitzen muss. Auf der Parkbank, die er sich vorher ausgesucht hat. Das ist die Wahl des Ausstellungsortes. Was glaubst du, was für ein Aufhebens Künstler davon machen, wo und wie sie ihr Kunstwerk platzieren.«
»Wo und wie sie eine Tote hinsetzen!?« In Chris sträubte sich alles gegen diesen Vergleich.
»Nun, heutzutage gäbe ein Künstler alles dafür, wenn sein Werk mit einem Schlag das Interesse der Weltöffentlichkeit gewinnen könnte. Das ist der Traum jedes Künstlers, der ja für die Präsentation und nicht für sich arbeitet.«
Es schien eine schlüssige Argumentation, aber sie musste widersprechen. »Mir haben Künstler immer gesagt, sie hören auf ihre innere Stimme und nicht auf den Markt.«
»So eine innere Stimme hat auch der Täter«, sagte Bach.
»Er handelt zwanghaft, auch wenn er weiß, was er tut. Er kann es nicht unterlassen. Und wenn es abläuft, kann er es nicht bremsen.«
»Meinst du, er würde an den Tatort zurückkehren, wenn die Polizei da ist?«
»Er würde es wohl kaum versäumen. Ebenso wenig wie ein Künstler die Vernissage versäumt, wo sein neues Werk gezeigt wird. Er will die Wirkung sehen, die es auf das Publikum hat. Dafür hat er gearbeitet.«
In Chris hatte sich während der Unterhaltung das Bild zusammengesetzt: Tatsächlich sitzt die Tote wie ein Ausstellungsstück auf der Parkbank, neben ihr der Kaffeebecher und vor ihr die Tauben, die sie zu füttern scheint. Die Polizei kommt - und ganz sicher gehört sie mit zu der Szenerie, die der Killer beabsichtigt hatte, die ersten Zuschauer bleiben stehen, Menschen sammeln sich an, in der Mitte die Staatsanwältin, die der Mörder schon Tage vorher beobachtet hatte, als sie zur Mittagspause auf derselben Parkbank saß und auch Tauben fütterte. Er stand unter den Neugierigen, genoss deren Sensationslust und nahm dann sie, Chris Gregor, in seinen Fokus, verfolgte ihre Bewegungen, sah ihre Ratlosigkeit, während er sich so sicher fühlte, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, das Risiko des Spiels zu erhöhen, und über die Absperrung sprang, auf sie zuging, ihr seine Visitenkarte gab. Sie sah noch, wie er grinste, als er von den Beamten weggeführt wurde. So wird es gewesen sein. Das überzeugte sie, obwohl sie sich dagegen wehrte. Deswegen hatte sie Hubertus Bach angerufen: Sie wollte ihre Fantasien an der Erfahrung des Spezialisten orientieren. Paula hätte ihr da nicht helfen können, auch wenn sie eine gute Ermittlerin war. Sie hatte es bisher auch mit Mördern zu tun gehabt, aber dieser Killer war ganz anders. Das war auch aus Poschs Bemerkungen deutlich herauszuhören gewesen.
Nun erzählte sie Bach von dem Mann, der über die
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