Im Himmel mit Ben: Roman (German Edition)
geworden.«
»Das ist doch ganz normal. Du hast dein Referendariat gemacht, dann die ganzen Prüfungen. Du hattest gar keine Möglichkeit, richtig zu trauern. Es erwischt uns doch meistens erst dann, wenn der ganze Stress vorbei ist. Sieh es doch mal so: Du darfst dich jetzt richtig hängen lassen und dich von morgens bis abends schlecht fühlen. Das geht nicht mehr, wenn die Schule wieder anfängt. Denn dann musst du funktionieren. Und ich bin mir sicher, dass du dich bis dahin wieder gefangen hast und dir dein Job sehr viel Spaß machen wird. Die Kids lieben dich.«
»Trotzdem, es ist jetzt bald ein Jahr her. Und von Besserung keine Spur.«
»Das liegt bestimmt daran, dass Bens Todestag näher rückt. Soll ich nächste Woche mal ein Weilchen zu dir kommen?«
»Ja, das wäre schön.«
»Ich kann auch gleich vorbeischauen. In einer halben Stunde könnte ich da sein.«
»Nein, lass mal. Ich komm schon klar.«
»Und wenn ich für dich anrufe?«
»Nein. Das möchte ich auch nicht. Ich brauche einfach noch etwas mehr Zeit. Nächste Woche vielleicht …«
Ohne meine beste Freundin hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden. Ich habe Rici damals in der U-Bahn kennengelernt, auf der Fahrt zur Uni. Sie ist die Treppe hinuntergesprintet, doch die Bahn drohte ohne sie abzufahren. Kurz entschlossen habe ich die Tür blockiert, sodass die U-Bahn nicht losfahren konnte. Als sie atemlos in den Wagon sprang, grinste sie mich dankbar an. Von da an haben wir uns fast täglich um die gleiche Uhrzeit in der U-Bahn getroffen und uns immer mehr angefreundet. Vor den Semesterferien haben wir dann Handynummern ausgetauscht, und statt in der Bahn trafen wir uns nun auch am Nachmittag oder abends. Ich studierte damals auf Lehramt, Kunst und Deutsch. Rici war Medizinstudentin. Das ist jetzt etwa sechs Jahre her. Sie hat das Studium aber nicht abgeschlossen, ist heute verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Wir sehen uns nicht mehr so häufig, telefonieren aber regelmäßig.
Nachdem ich aufgelegt habe, runzele ich verärgert die Stirn. Der blöde Kater sitzt immer noch in unveränderter Position auf dem Ast.
»Kannst du nicht einfach verschwinden?«, frage ich leise und fühle mich erschöpft und kraftlos.
Ich setze mich an den Küchentisch, lege meinen Kopf auf das kühle Holz, schließe meine Augen und kämpfe gegen die Tränen an. Ben ist tot. Seit fast genau einem Jahr. Und ausgerechnet jetzt taucht dieser Kater hier auf, um mich ständig daran zu erinnern. Dabei genügt schon eine Kleinigkeit, mich an Ben denken zu lassen, wie zum Beispiel der Duft von Pfefferminze. Ben lutschte ständig diese scharfen, weißen Minzbonbons, die man nur in der Apotheke kaufen kann. Er war geradezu süchtig nach den kleinen Dingern und hatte die Tütchen an allen möglichen Stellen deponiert, um sie immer griffbereit zu haben.
In anderen Momenten ist es ein Lied. Ben hatte einen ausgefallenen Musikgeschmack. Von den Tindersticks habe ich erst durch ihn erfahren. Auch Bands wie The Frame kannte ich vorher nicht. Aber Ben stand auch auf U2. Letztens habe ich im Autoradio zufällig Beautiful Day gehört. Ich hatte meine Mutter besucht und war zum Glück schon fast zu Hause, als es gespielt wurde. Ich war mit meinen Gedanken noch bei den Geschichten gewesen, die meine Mutter mir gerade über ihre etwas tollpatschige Freundin erzählt hatte, und schmunzelte vor mich hin. Der Song traf mich völlig unvorbereitet und mitten ins Herz. In meiner Wohnung angekommen, zerfloss ich dann vor Selbstmitleid, und ich hörte ihn dann mindestens zwanzig Mal hintereinander. Dabei wünschte ich mir, so wie Bono es besang, mich auch wieder an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen zu können.
Auch Filme erinnern mich oft an Ben, so wie Robin Hood, über den ich gestern auf der Suche nach einem guten Fernsehprogramm gestolpert bin. Die Neuverfilmung mit Russell Crowe und Cate Blanchett war der letzte Film, den ich mit Ben gesehen habe. Das war vor zwei Jahren. Ben hat mich noch Wochen danach wegen meiner Schwärmerei für Russell Crowe aufgezogen. Er habe nicht gewusst, dass ich auf ältere, dickliche Männer stehe, foppte er mich. Er rief mich spät am Abend an und erzählte mir, er habe einen Film mit Nicolas Cage gesehen. Der habe auch ordentlich zugelegt und dürfte nun genau nach meinem Geschmack sein. Daraufhin habe ich gekontert, Ben sei nur neidisch, da er, obwohl er ständig ins Fitnessstudio rannte, einfach keine Muckis bekommen würde. Aber
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