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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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bekommen«
    verbunden ist. Hier sitze ich zum Beispiel und schreibe vor einem behaglichen Kohlenfeuer. Es ist zwar April, aber ich muß noch heizen. Alle zwei Wochen hält der Wagen mit den Kohlen vor der Haustür, und Männer in Lederjacken bringen schwere, nach Teer riechende Säcke und leeren die Kohlen in den
    Verschlag unter der Treppe. Es bedarf bei mir einer
    ausgesprochenen gedanklichen Anstrengung, um eine
    Verbindung zwischen meiner Kohle und der fernen Arbeit in
    den Gruben herzustellen. Es ist eben »Kohle«, das heißt, etwas, was ich unbedingt haben muß, ein schwarzes Material, das auf geheimnisvolle Weise von einem nicht besonders
    gekennzeichneten Ort kommt, wie Manna vom Himmel, nur mit
    dem Unterschied, daß ich dafür zahlen muß. Man könnte ohne weiteres mit dem Wagen durch den Norden Englands fahren,
    ohne auch nur einmal daran zu denken, daß mehrere hundert
    Fuß unter der Straße Bergleute Kohle laden. Und doch sind es in gewissem Sinn eben diese Bergleute, die dafür sorgen, daß dein Wagen fährt. Ihre von Grubenlampen erhellte Welt ist für die Welt im Tageslicht ebenso notwendig wie die Wurzeln für eine Blume.
    Vor noch nicht allzulanger Zeit waren die Verhältnisse in den Gruben schlechter als heute. Es leben noch ein paar sehr alte Frauen, die in ihrer Jugend unter Tage gearbeitet haben, mit
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    einer Art Geschirr um die Hüften und einer Kette, die zwischen den Beinen hindurchlief. Auf allen vieren kriechend mußten sie die eisernen Kohlentonnen den Stollen entlangzerren, selbst wenn sie schwanger waren. Das gibt es nicht mehr. Aber wenn man Kohle nicht anders fördern könnte als dadurch, daß
    schwangere Frauen eiserne Tonnen hin und her zerren müßten, ich glaube, wir würden das selbst heute eher zulassen, als auf Kohle zu verzichten. Aber natürlich würden wir ungleich lieber mit Stillschweigen darüber hinweggehen. Und so verhält es sich mehr oder weniger mit allen Arten von Schwerarbeit. Sie erhält uns am Leben, und wir sehen über ihr Vorhandensein hinweg.
    Vielleicht mehr als jeder andere ist der Bergarbeiter ein
    Musterbeispiel für diese Art Schwerarbeit, nicht nur, weil seine Arbeit so außergewöhnlich mühselig ist, sondern auch weil sie lebensnotwendig ist und sich dabei in einer von der unseren so weit entfernten Welt abspielt, daß wir sie ebenso vergessen können wie das Blut in unseren eigenen Adern. Es ist in
    gewisser Weise sogar beschämend, Grubenarbeitern zuzusehen.
    Es läßt in einem zeitweise Zweifel an der eigenen Stellung als
    »Intellektueller« und »Gebildeter« überhaupt aufkommen. Es wird einem klar, wenigstens solange man ihnen zusieht, daß, nur weil Kumpel sich die Eingeweide aus dem Leib schwitzen,
    geistig höherstehende Menschen auch geistig höher stehen
    können. Du und ich, der Herausgeber der literarischen Beilage der Times, die Dichter und der Erzbischof von Canterbury und Genosse X, der Verfasser von Marxismus für Kinder, wir alle verdanken in Wirklichkeit unseren verhältnismäßg anständigen Lebensstandard den armen Schweinen unter Tage, die schwarz bis an die Augen, die Kehlen voller Kohlenstaub, ihre Schaufeln mit Armen aus Stahl und mit Hilfe der Bauchmuskeln in die
    Kohlenhaufen stoßen.
    Aus: The Road to Wigan Pier, ersch. 1937.
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    Marrakesch
    Als der Tote draußen vorübergetragen wurde, verließen die
    Fliegen den Tisch im Restaurant und schwärmten in einer
    Wolke hinter ihm her, aber wenige Minuten später kehrten sie zurück.
    Die kleine Schar Trauernder - nur Männer und Burschen,
    keine Frauen - schlängelte sich über den Marktplatz, zwischen aufgetürmten Granatäpfeln, Taxis und Kamelen hindurch, von Zeit zu Zeit in ein kurzes, eintöniges Klagelied ausbrechend. Die Fliegen werden hier von den Leichen besonders deshalb
    angelockt, weil diese nicht in einem Sarg liegen, sondern
    eingehüllt in ein paar Lumpen auf einer rohen, hölzernen Bahre, die von einigen Freunden auf den Schultern getragen wird.
    Wenn der Zug die Begräbnisstätte erreicht hat, wird eine
    längliche Grube von ein bis zwei Fuß Tiefe ausgehoben, der Leichnam hineingelegt und mit der harten, trockenen Erde
    bedeckt, die wie zerbröckelter Ziegelstein aussieht. Kein
    Grabstein, kein Name, kein Zeichen der Erinnerung
    irgendwelcher Art. Die Gräberstätte ist nichts als eine weite, öde Fläche, uneben wie ein verlassener Bauplatz. Nach zwei
    Monaten könnte niemand mit Sicherheit sagen, wo selbst seine nächsten Angehörigen begraben

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