Im Innern des Wals
die menschliche Natur sie hervorzubringen imstande ist, wenn der wirtschaftliche Druck und die Last der Flößer, der Tradition von ihr genommen sind.
Seine Beschreibung der Mississippi-Kapitäne, der Goldgräber, der Banditen ist vermutlich kaum übertrieben. Sie unterscheiden sich vom modernen Menschen und untereinander ebenso sehr
wie die steinernen Fratzen an mittela lterlichen Kathedralen. Sie konnten ihre seltsame und oft fragwürdige Persönlichkeit
entfalten, weil jeder Druck von außen fehlte. Einen Staat gab es kaum, die Kirchen waren schwächlich und sprachen mit vielen Zungen, und Land gab es so viel man wollte, ma n brauchte es sich nur zu nehmen. Wenn einem die Arbeit nicht paßte, schlug man dem Boss einfach ein Auge blau und zog weiter nach
Westen. Geld gab es so viel, daß die kleinste im Umlauf
befindliche Münze einen Shilling wert war. Die amerikanischen Pioniere waren keine Übermenschen und nicht einmal besonders tapfer. Ganze Städte dieser abgehärteten Pioniere ließen sich von einer Handvoll Banditen terrorisieren, weil es ihnen an genügend Gemeinschaftsgeist fehlte, um sie unschädlich zu
machen. Es gab sogar Klassenunterschiede. Der Desperado, der durch die Straßen einer Goldgräbersiedlung stelzte, die
»Derringer«-Pistole in der Westentasche und zwanzig Leichen auf seinem Konto, trug einen Frack und einen glänzenden
Zylinder, bezeichnete sich selbst unverfroren als »Gentleman«
und legte größten Wert auf tadellose Manieren bei Tisch.
Aber immerhin war das Schicksal eines Mannes damals nicht
von der Wiege bis zum Grabe vorgezeichnet. Das Schlagwort
»von der Blockhütte bis zum Weißen Haus« entsprach der
Wirklichkeit, solange unbegrenzt Land zur Verfügung stand. In gewisser Weise war es dies, wofür der Pariser Pöbel die Bastille
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stürmte. Und wenn man heute Mark Twain, Bret Harte und
Whitman wieder liest, kann man sich kaum vorstellen, daß alle ihre Bemühungen umsonst waren.
Jedenfalls wollte Mark Twain mehr als nur ein Chronist des Mississippi und des Goldfiebers sein. Zu seinen Lebzeiten war er als Humorist und Vortragskomiker weltbekannt. In New
York, London, Berlin, Wien, Melbourne und Kalkutta bog sich das Publikum vor Lachen über seine Witze, die mit wenigen
Ausnahmen aufgehört haben, komisch zu wirken.
(Bemerkenswert, daß seine Veranstaltungen nur bei
Angelsachsen und Deutschen so großen Erfolg hatten, während sie bei den verhältnismäßig erwachsenen lateinischen Völkern-deren Humor, wie er klagte, sich immer nur um Sex und Politik drehte - nicht ankamen.) Dazu kommt, daß Mark Twain in
gewissem Sinne Anspruch erhob, so etwas wie ein
Gesellschaftskritiker, ja sogar eine Art Philosoph zu sein. Er hatte etwas von einem Bilderstürmer und Revolutionär in sich, eine Ader, der er offensichtlich gern gefolgt wäre und doch niemals gefolgt ist. Er hätte ein Zerstörer veralteter und verlogener Anschauungen, ein Prophet der Demokratie in noch stärkerem Maße als Whitman sein können, weil er urwüchsiger war und mehr Humor hatte. Statt dessen wurde er etwas so
Fragwürdiges wie eine »öffentliche Figur«, von Grenzbeamten umschmeichelt und von königlichen Hoheiten empfangen. Sein Leben ist ein getreues Spiegelbild des Niedergangs, der in Amerika nach dem Bürgerkrieg einsetzte.
Mark Twain ist oft mit seinem Zeitgenossen Anatole France verglichen worden. Dieser Vergleich ist nicht so unsinnig, wie er auf den ersten Blick scheint. Beide waren die geistigen Erben Voltaires. Beide besaßen
eine skeptischironische
Lebensauffassung und einen angeborenen Pessimismus, dem
eine leichte Heiterkeit nicht fehlte. Beide wußten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung reiner Schwindel war und ihre gehätschelten Glaubenssätze auf Selbsttäuschung beruhten.
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Beide waren engstirnige Atheisten und (Mark Twain dank
Darwins Einfluß) überzeugt von der unerträglichen Grausamkeit des Universums. Aber da endet ihre Übereinstimmung auch. Der Franzose ist dem Amerikaner an Bildung weit überlegen, er ist nicht nur mutiger, er ist auch viel kultivierter und von
ausgeprägtem Schönheitssinn. Und er scheut sich nicht,
anzugreifen was ihm mißfällt; er flüchtet sich nicht, wie Mark Twain, ständig hinter die liebenswürdige Maske der »populären Figur« und des amtlichen Hofnarren. Er scheut sich nicht, den Zorn der Kirche auf sich zu ziehen und sich zum Beispiel in der Affäre Dreyfus gegen die öffentliche Meinung zu
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