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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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die menschliche Natur sie hervorzubringen imstande ist, wenn der wirtschaftliche Druck und die Last der Flößer, der Tradition von ihr genommen sind.
    Seine Beschreibung der Mississippi-Kapitäne, der Goldgräber, der Banditen ist vermutlich kaum übertrieben. Sie unterscheiden sich vom modernen Menschen und untereinander ebenso sehr
    wie die steinernen Fratzen an mittela lterlichen Kathedralen. Sie konnten ihre seltsame und oft fragwürdige Persönlichkeit
    entfalten, weil jeder Druck von außen fehlte. Einen Staat gab es kaum, die Kirchen waren schwächlich und sprachen mit vielen Zungen, und Land gab es so viel man wollte, ma n brauchte es sich nur zu nehmen. Wenn einem die Arbeit nicht paßte, schlug man dem Boss einfach ein Auge blau und zog weiter nach
    Westen. Geld gab es so viel, daß die kleinste im Umlauf
    befindliche Münze einen Shilling wert war. Die amerikanischen Pioniere waren keine Übermenschen und nicht einmal besonders tapfer. Ganze Städte dieser abgehärteten Pioniere ließen sich von einer Handvoll Banditen terrorisieren, weil es ihnen an genügend Gemeinschaftsgeist fehlte, um sie unschädlich zu
    machen. Es gab sogar Klassenunterschiede. Der Desperado, der durch die Straßen einer Goldgräbersiedlung stelzte, die
    »Derringer«-Pistole in der Westentasche und zwanzig Leichen auf seinem Konto, trug einen Frack und einen glänzenden
    Zylinder, bezeichnete sich selbst unverfroren als »Gentleman«
    und legte größten Wert auf tadellose Manieren bei Tisch.
    Aber immerhin war das Schicksal eines Mannes damals nicht
    von der Wiege bis zum Grabe vorgezeichnet. Das Schlagwort
    »von der Blockhütte bis zum Weißen Haus« entsprach der
    Wirklichkeit, solange unbegrenzt Land zur Verfügung stand. In gewisser Weise war es dies, wofür der Pariser Pöbel die Bastille
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    stürmte. Und wenn man heute Mark Twain, Bret Harte und
    Whitman wieder liest, kann man sich kaum vorstellen, daß alle ihre Bemühungen umsonst waren.
    Jedenfalls wollte Mark Twain mehr als nur ein Chronist des Mississippi und des Goldfiebers sein. Zu seinen Lebzeiten war er als Humorist und Vortragskomiker weltbekannt. In New
    York, London, Berlin, Wien, Melbourne und Kalkutta bog sich das Publikum vor Lachen über seine Witze, die mit wenigen
    Ausnahmen aufgehört haben, komisch zu wirken.
    (Bemerkenswert, daß seine Veranstaltungen nur bei
    Angelsachsen und Deutschen so großen Erfolg hatten, während sie bei den verhältnismäßig erwachsenen lateinischen Völkern-deren Humor, wie er klagte, sich immer nur um Sex und Politik drehte - nicht ankamen.) Dazu kommt, daß Mark Twain in
    gewissem Sinne Anspruch erhob, so etwas wie ein
    Gesellschaftskritiker, ja sogar eine Art Philosoph zu sein. Er hatte etwas von einem Bilderstürmer und Revolutionär in sich, eine Ader, der er offensichtlich gern gefolgt wäre und doch niemals gefolgt ist. Er hätte ein Zerstörer veralteter und verlogener Anschauungen, ein Prophet der Demokratie in noch stärkerem Maße als Whitman sein können, weil er urwüchsiger war und mehr Humor hatte. Statt dessen wurde er etwas so
    Fragwürdiges wie eine »öffentliche Figur«, von Grenzbeamten umschmeichelt und von königlichen Hoheiten empfangen. Sein Leben ist ein getreues Spiegelbild des Niedergangs, der in Amerika nach dem Bürgerkrieg einsetzte.
    Mark Twain ist oft mit seinem Zeitgenossen Anatole France verglichen worden. Dieser Vergleich ist nicht so unsinnig, wie er auf den ersten Blick scheint. Beide waren die geistigen Erben Voltaires. Beide besaßen
    eine skeptischironische
    Lebensauffassung und einen angeborenen Pessimismus, dem
    eine leichte Heiterkeit nicht fehlte. Beide wußten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung reiner Schwindel war und ihre gehätschelten Glaubenssätze auf Selbsttäuschung beruhten.
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    Beide waren engstirnige Atheisten und (Mark Twain dank
    Darwins Einfluß) überzeugt von der unerträglichen Grausamkeit des Universums. Aber da endet ihre Übereinstimmung auch. Der Franzose ist dem Amerikaner an Bildung weit überlegen, er ist nicht nur mutiger, er ist auch viel kultivierter und von
    ausgeprägtem Schönheitssinn. Und er scheut sich nicht,
    anzugreifen was ihm mißfällt; er flüchtet sich nicht, wie Mark Twain, ständig hinter die liebenswürdige Maske der »populären Figur« und des amtlichen Hofnarren. Er scheut sich nicht, den Zorn der Kirche auf sich zu ziehen und sich zum Beispiel in der Affäre Dreyfus gegen die öffentliche Meinung zu

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