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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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selbstverständlich an, daß die »niedere Brut« sich auf
    »Eingeborene« bezieht, wobei vor dem geistigen Auge das Bild eines Pukka-Sahib mit einem Tropenhelm auftaucht, der einem Kuli einen Fußtritt versetzt. Im Zusammenhang ist der Sinn der Zeile so ziemlich das genaue Gegenteil. Der Ausdruck »Niedere Brut« bezieht sich fast mit Sicherheit auf die deutschen, und zwar besonders auf die All- Deutschen Schriftsteller, die
    gesetzlos sind im Sinne von »kein Gesetz anerkennen«, nicht aber im Sinne von »machtlos«. Das ganze Gedicht, das
    gewöhnlich als Ausdruck schrankenloser nationaler
    Überheblichkeit gewertet wird, ist in Wirklichkeit eine
    Verurteilung englischer wie deutscher Machtpolitik. Zwei
    Strophen verdienen hier angeführt zu werden (wegen ihrer
    politischen, nicht wegen ihrer künstlerischen Bedeutung):

    If, drunk with sight of power, we loose Wild tongues that
    have not Thee in awe, Such boastings as the Gentiles use, Or lesser breeds without the Law -Lord God of hosts, be with us yet, Lest we forget - lest we forget!

    For heathen heart that puts her trust In reeking tube and iron shard, All valiant dust that builds on dust, And guarding, calls not Thee to guard, For frantic boast and foolish word -Thy
    -146-

    mercy on Thy People, Lord!

    [Wenn wir trunken vom Anblick der Macht wilde Reden
    führen, die Deiner nicht achten, Prahlereien nach Art der Heiden oder niederer Brut ohne Gesetz - Herr der Heerscharen, sei dennoch mit uns, daß wir nicht vergessen - daß wir nicht
    vergessen. Für das heidnische Herz, das sein Vertrauen auf rauchendes Rohr und schartiges Eisen setzt, eitler Staub auf Staub gebaut und wachend nicht nach Dir als Wächter ruft. Für tolles Prahlen und närrisches Reden - Sei gnädig Deinem Volk, oh, Herr!]

    Viel von Kiplings Terminologie stammt aus der Bibel, und in der zweiten Strophe schwebte ihm ohne Zweifel der Text des 127. Psalms vor: »Wo der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wo der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. « Es ist kein Text, der auf die Generation nach Hitler großen Eindruck machen könnte.
    Niemand glaubt heutzutage an irgendwelche Maßnahmen, die
    stärker sind als militärische Macht, niemand glaubt an die Möglichkeit, Gewalt zu besiegen, außer durch noch größere
    Gewalt. Es gibt kein »Gesetz«, es gibt nur Macht. Ich will damit nicht sagen, daß es sich dabei um einen echten Glauben handelt; um einen, an den sich alle modernen Menschen heute halten.
    Diejenigen, die das bestreiten, sind entweder intellektuelle Feiglinge oder Machtanbeter hinter einer durchsichtigen Maske, oder sie hinken einfach hinter der Zeit her, in der sie leben.
    Kiplings Anschauungen sind präfaschistisch. Er glaubt noch daran, daß Hochmut vor dem Fall kommt und daß die Götter die Hybris bestrafen. Er ahnt noch nichts von Panzern,
    Bombenflugzeugen, Radio, Geheimpolizei und ihren
    psychologischen Wirkungen. Aber widerspricht das nicht dem, was ich über Kiplings Jingoismus und Brutalität gesagt habe?
    Nein, es heißt nur, daß die imperialistische Geisteshaltung des
    -147-

    19. Jahrhunderts und das moderne Banditentum von heute zwei verschiedene Dinge sind. Kipling gehört ganz entschieden der Periode an, die zwischen 1885 und 1902 liegt. Der Große Krieg und seine Folgen erbitterten ihn, aber er scheint nur wenig aus den Ereignissen nach dem Burenkrieg gelernt zu haben. Er war der Prophet des britischen Imperialismus in dessen
    expansionistischer Phase (mehr noch als seine Gedichte
    vermittelt einem der vereinzelt dastehende Roman The Light that Failed die Atmosphäre jener Zeit), er war der inoffizielle Geschichtsschreiber der englischen Armee, der alten
    Söldnerarmee, deren Form sich erst 1914 änderte. Seine
    Zuversicht, seine überschäumende, derbe Vitalität entsprangen einer Beschränktheit, die kein Faschist oder Halb-Faschist teilt.
    Kipling verbrachte den späteren Teil seines Lebens im Groll, und zweifellos war der Grund wohl mehr politische
    Enttäuschung als literarische Eitelkeit. Irgendwie war die Weltgeschichte nicht nach Plan verlaufen. Nach dem größten Sieg, den England je errungen hat, war es eine weniger
    bedeutende Weltmacht als vorher, und Kipling besaß Scharfsinn genug, um das zu erkennen. Die Klassen, die er besungen,
    hatten die großen Eigenschaften verloren, die Jugend war
    hedonistisch oder uninteressiert, der Wunsch, die Weltkarte rot zu malen, war verschwunden. Er konnte

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