Im Innern des Wals
Straße war das Künstlervolk so gleichgültig geworden, daß Lesbierinnen mit rauchigen Stimmen in Cordhosen und junge Leute in griechischen oder mittelalterlichen Gewändern durch die Straßen wandeln konnten, ohne daß jemand sich nach ihnen umdrehte. Am Seine-Ufer bei Notre Dame war es so gut wie unmöglich, sich einen Weg durch die Malstühlchen zu bahnen. Es war die Epoche der erfolgreichen Außenseiter und der verkannten Genies. Der Satz, den man am häufigsten hörte, war: »Quand je serai lancé.« Es stellte sich heraus, daß niemand »lancé« wurde. Die Wirtschaftskrise brach herein wie eine neue Eiszeit, der internationale Mob von Künstlern zerstob, und die großen Cafés von Montparnasse, die noch nicht ein Jahrzehnt zuvor bis in die frühen Morgenstunden von schreienden Poseurs erfüllt waren, verwandelten sich in düstere Grabgewölbe, in denen es nicht einmal mehr Geister gab.
Diese Welt, die unter anderem in dem Roman Tarr (ersch. 1918) von Wyndham Lewis beschrieben ist, schildert Henry Miller, aber er befaßt sich nur mit ihrer Unterseite, der lumpenproletarischen Randschicht, der es gelungen ist, die Krise zu überleben, weil sie teils aus echten Künstlern, teils aus echten Gaunern besteht. Die verkannten Genies, die Paranoiker, die immer im Begriff sind, den Roman zu schreiben, der aus Proust einen zerbeulten Hut machen wird, finden sich hier, sind aber nur in den ziemlich seltenen Augenblicken genial, in denen sie nicht gerade Jagd auf die nächste Mahlzeit machen.
Zum größten Teil ist es eine Geschichte von verwanzten Zimmern in Arbeiterquartieren, Auseinandersetzungen, Trinkgelagen, Puffs, russischen Emigranten, Betteln, Schwindeln und Gelegenheitsarbeit. Die ganze Atmosphäre der Armenviertel von Paris, wie sie ein Ausländer sieht – die Boulevards mit ihrem Kopfsteinpflaster, der saure Geruch von Abfällen, die Bistros mit ihren fettigen Zinktheken und ausgetretenen Ziegelböden, das grüne Wasser der Seine, die blauen Uniformen der Republikanischen Garde, die verlotterten gußeisernen Pissoirs, der besondere süßliche Geruch der Untergrundbahnhöfe, die halbierten Zigaretten, die Tauben im Jardin du Luxembourg, es ist alles da oder die Stimmung, ein Hauch von alledem.
Auf den ersten Blick kein eben vielversprechender Stoff. Als Wendekreis des Krebses erschien, marschierten die Italiener in Abessinien ein und waren Hitlers Konzentrationslager bis zum Bersten voll. Die Brennpunkte des Weltgeschehens waren Rom, Moskau und Berlin. Es schien nicht der geeignete Augenblick, um einen Roman von hervorragender Bedeutung über amerikanische Bummler, Bettler und Trunkenbolde im Quartier Latin zu schreiben. Natürlich ist ein Romancier nicht verpflichtet, über zeitgeschichtliche Ereignisse zu berichten, aber ein Romancier, der sie übersieht, hat gewöhnlich entweder die Füße nicht auf dem Boden oder er ist einfach ein Idiot. Bestimmt würde jeder, der nur das Hauptthema kennenlernt, den Wendekreis des Krebses für ein frivoles Überbleibsel der zwanziger Jahre halten. In Wahrheit stellte jeder, der es gelesen hatte, sofort fest, daß es nichts dergleichen, sondern ein sehr bemerkenswertes Buch sei. Wie oder warum bemerkenswert? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, und es ist besser, mit der Beschreibung der Eindrücke zu beginnen, die Wendekreis des Krebses auf mich gemacht hat.
Als ich das Buch zum erstenmal aufschlug und sah, daß es von Wörtern wimmelte, die nicht für den Druck geeignet sind, war meine sofortige Reaktion, mich nicht davon beeindrucken zu lassen. Ich glaube, den meisten Lesern würde es so ergehen. Dabei schien sich nach einer gewissen Zeit die Atmosphäre des Buches neben unzähligen Einzelheiten auf eigentümliche Weise in meinem Gedächtnis festgesetzt zu haben. Ein Jahr später erschien Millers zweites Buch Schwarzer Frühling (1936). Zu dieser Zeit war Wendekreis des Krebses mir viel gegenwärtiger als das erstemal. Mein erster Eindruck war, daß Schwarzer Frühling schwächer sei, und tatsächlich hat es nicht die Geschlossenheit des Erstlings. Nach einem weiteren Jahr hatten ebenfalls viele Passagen aus Schwarzer Frühling in meinem Gedächtnis Wurzeln geschlagen. Offensichtlich gehören beide Bücher zu denen, die einen Nachhall hinterlassen, Bücher, die sich »ihre eigene Welt schaffen«, wie man sagt. Das müssen nicht unbedingt gute Bücher sein, es können gute schlechte Bücher wie Raffles ( von E. W. Hornung, ersch. 1901) oder die Erzählungen
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