Im Jahre Ragnarök
hinterzog somit Staatseigentum der USA. Ein gefährlicher, aber auch sehr einträglicher Weg, zu Geld zu kommen, denn amerikanische Sammler zahlten schwindelerregende Preise.
»Sir Hugh hatte recht. Das hier würde die Amerikaner ganz bestimmt interessieren.
Das heißt natürlich, wenn sie davon wüssten«, meinte Tubber, als er das eingewickelte Bild ins Regal zurücklegte und sich die Kleidungsstücke vornahm.
Ein alter Wehrmachtsmantel, vom ursprünglichen Grau in ein verwaschenes Erdbraun umgefärbt, eine zerdrückte grüne Feldmütze, eine Hose aus grobem Stoff, ein Paar Fußlappen sowie gummibesohlte Infanteriestiefel, die wohl aus einem amerikanischen Militärdepot über dunkle Kanäle auf den Schwarzmarkt gelangt waren, wie es ja auch in England nicht selten der Fall war. Die Unterwäsche und der olivgrüne Wollpullover stammten zweifellos ebenfalls aus einer solchen Quelle. Das verriet Tubber zwar, dass der Tote mit Sicherheit gute Kontakte zu Schwarzmarkthändlern gehabt hatte, doch darüber hinaus bescherte ihm die Kleidung keine neuen Erkenntnisse.
»Nichtssagend«, fasste Tubber das Ergebnis zusammen und packte die Kleidungsstücke wieder ins Regal.
»Nicht ganz«, widersprach Dünnbrot. »Er war ein geschickterer Bergsteiger als Sie, Herr Leutnant. So viel steht fest.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Dünnbrot deutete auf Tubbers mit grünen Moosflecken verdreckte Hose. »Er ist auf den Hohlestein geklettert, ohne schmutzig zu werden. Sie hingegen nicht.«
»Besten Dank für diesen wertvollen Hinweis«, knurrte Tubber und wandte sich den nächsten Gegenständen zu. Den altenWanderrucksack untersuchte er nur kurz, um sich zu vergewissern, dass er wirklich leer war. Als er das erledigt hatte, nahm er das letzte Objekt in die Hand, ein Notizbuch mit flexiblem Einband aus schwarzem Kunststoff; es musste sich um die codierten Aufzeichnungen handeln, die Sir Hugh erwähnt hatte.
Als Erstes bemerkte Tubber einen gefalteten Zettel, der aus den Seiten ragte. Er nahm ihn heraus, legte ihn ungeöffnet beiseite und blätterte zunächst das Notizbuch durch. Wie sich herausstellte, enthielten nur die ersten acht Seiten Eintragungen, pedantisch exakt mit Kugelschreiber untereinander aufgelistete Reihen von Zahlen und Buchstaben. Tubber überflog einige Zeilen:
53-04-21 N, 08-48-48 O
52-31-15 N, 13-23-53 O
48-08-54 N, 11-34-12 O
»Ich möchte mal wissen, welcher Nichtskönner das für einen Code gehalten hat«, sagte er naserümpfend. »Ganz gewöhnliche geografische Koordinaten sind das. Das sieht man doch auf den ersten Blick.«
Die jahrelange Erfahrung im Kartenlesen, die Tubber auf seinen Einsätzen in abgelegenen orientalischen Landstrichen gezwungenermaßen erworben hatte, machte sich bezahlt. Er erkannte sofort, dass sich die Koordinaten allesamt auf Orte in Europa bezogen. Doch weshalb waren sie für den toten Unbekannten so wichtig gewesen?
Tubber überlegte und spielte dabei unbewusst mit den Seiten des Notizbuches, als wäre es ein Daumenkino. Schnell schnurrten die leeren Blätter vorüber, eine rasende Abfolge von identischen weißen Flächen mit dünnen blauen Linien.
Plötzlich aber, nur für das Fragment einer Sekunde, störte etwas die inhaltslose Einförmigkeit. Sofort blätterte Tubber zurück, und er fand mitten im Buch eine Notiz:
Ragnarök
Völlige Vernichtung, Reinigung
Baum an Wurzel abschlagen
Keine Überlebenden
Die Worte waren mit rotem Kopierstift quer über die Seite geschrieben worden, und das offenbar in großer Eile, denn die Buchstaben hetzten in hektischen, lang gezogenen Wellen über das Papier.
»Sagt Ihnen das was?«, wollte Tubber von Dünnbrot wissen und las ihm die Notiz vor.
»Ragnarök ist die Götterdämmerung der alten nordischen Sagen«, antwortete der Deutsche, »aber worum es da genau ging, weiß ich nicht mehr. Nur, dass dabei die Welt vollkommen zerstört wird.«
»Wäre für manche Gegenden sogar 'ne Verbesserung«, brummte Tubber und öffnete nun den zusammengefalteten und von Feuchtigkeit stark gewellten Zettel, der im Notizbuch gesteckt hatte. Er enthielt nur einige schnell mit Bleistift niedergeschriebene Worte:
Fri Mar 9, 0930h Kassel
Herkules Svensson
»Jetzt wird es interessant!«, meinte Tubber. »Er wollte sich übermorgen hier in Kassel mit einem gewissen Herkules Svensson treffen. Das ist natürlich nur ein Tarnname, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wirklich so heißt. Vielleicht, ach was, ganz sicher ist das ein Hehler, dem unser Toter das Bild
Weitere Kostenlose Bücher