Im Jahre Ragnarök
am Arsch vorbei.«
Eine knappe Viertelstunde lang suchte Tubber den Gipfel des Hohlesteins ab, ehe er einsah, dass er nichts finden würde. Unverrichteter Dinge trat er den Abstieg an, der ihm noch stärker zusetzte als der Aufstieg, denn nun musste er sich blind die Trittsteine ertasten. Kalter Schweiß drang ihm aus allen Poren, und als er endlich wieder mit den Füßen auf dem Erdboden stand, war ihm speiübel. Es war sogar schlimmer als damals, als er die Hänge von Massada am Toten Meer hatte erklimmen müssen; und das wollte etwas heißen.
Tubber kehrte dem dunklen Felsen, der ihm nichts weiter als Angstattacken eingebracht hatte, den Rücken. Im Gehen klopfte er den Schmutz von seiner Kleidung und nahm missmutig zur Kenntnis, dass sich die hartnäckigen grünen Moosflecken an Mantel und Hose wohl nur noch durch eine chemische Reinigung entfernen ließen.
»Und?«, fragte Dünnbrot beiläufig, als Tubber sich ihm näherte. »Nichts, gar nichts«, antwortete der Engländer mürrisch und zog sich die verdrehten Mantelärmel wieder zurecht. »Denken Sie das Gleiche wie ich?«
Dünnbrot zuckte mit den Schultern. »Nur, wenn Sie zufällig daran denken, wie man diesen Felsen wohl am besten sprengen könnte.«
»Sprengen? Das ist doch völlig abwegig! Wie kommen Sie bloß darauf?«
»Was erwarten Sie? Ich war im Krieg bei den Pionieren. Das prägt halt«, entgegnete Dünnbrot, zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich lautstark.
Einen Moment fragte Tubber sich, ob sein Begleiter womöglich einen eigenwilligen Scherz gemacht hatte. Doch er hielt es für unwahrscheinlich, dass in diesem abgestumpften Land irgendwer noch Sinn für Humor besaß, und am allerwenigsten Günter Dünnbrot.
»Dort auf dem Gipfel gibt es absolut nichts«, versuchte Tubber seinen Gedankengang wieder aufzunehmen, »und gerade das finde ich merkwürdig. Was zum Geier wollte der Mann da oben?«
»Was weiß ich? Vielleicht musste er sich vor jemandem in Sicherheit bringen«, meinte der Deutsche und rieb sich die vor Kälte steifen Hände. »Darüber können Sie sich doch auch später noch den Kopf zerbrechen. Soll ich dem Captain Bescheid sagen, dass wir uns auf den Rückweg machen?« Er deutete hangabwärts, wo Hollingsworth in einiger Entfernung mit einem Zollstock eifrig die Abmessungen eines Haufens unförmiger Geröllbrocken erfasste und die Ergebnisse in ein Notizbuch eintrug.
Tubber war unzufrieden damit, den Hohlestein ohne greifbare Ergebnisse verlassen zu müssen; aber er willigte dennoch ein. »Meinetwegen. Hier gibt es für mich nichts mehr zu entdecken, brechen wir also auf. Vielleicht ist Dr. Boyce jetzt endlich zu sprechen.«
* * *
»Das ist er«, sagte Dr. Reginald Boyce, zog mit einem Ruck das Laken von der Leiche und rasselte in rascher Folge die Daten des Toten herunter. Der Garnisonsarzt machte keine Anstalten zu verbergen, dass für ihn das Gespräch mit Tubber ein lästiges Ärgernis darstellte, welches er so schnell wie nur möglich hinter sich bringen wollte. »Etwa vierzig Jahre alt, knapp sechs Fuß groß, 171 Pfund schwer.
Todesursache: Allgemeine Unterkühlung. War seit mindestens sechs und höchstens acht Stunden tot, als man ihn fand«, zählte er in einem Atemzug auf. »AllesWeitere finden Sie in meinem Obduktionsbericht, Lieutenant. Sie werden mich jetzt wohl entschuldigen.«
»Bitte warten Sie noch einen Moment, Sir«, bat Tubber und öffnete den Aktendeckel, den ihm der Arzt zuvor übergeben hatte. Erstaunt stellte er fest, dass der Obduktionsbericht aus nur einer einzigen Seite bestand, die noch nicht einmal vollständig beschrieben war. Er drehte das Blatt herum, doch die Rückseite war leer.
»Viel Zeit haben Sie sich für die Autopsie anscheinend nicht genommen«, bemerkte er. »Ach, finden Sie!«, donnerte der Arzt aufgebracht und verfiel dabei in einen furchterregenden irischen Akzent. »Ich will Ihnen mal was sagen! Ich habe ein überfülltes Krankenrevier, lauter Fälle von Grippe und Lungenentzündung. Für mich sind die Lebenden wichtiger als ein unbekannter Toter. Sie haben mir schon zu viel Zeit gestohlen, Lieutenant! Ich habe Wichtigeres zu tun!«
Unwillkürlich wich Tubber einen Schritt zurück, als sich Dr. Boyce, der ihn um Haupteslänge überragte, wutschnaubend und mit tiefrotem Kopf vor ihm aufbaute.
»Dann will ich Sie auf gar keinen Fall länger aufhalten, Sir«, versicherte er dem Arzt hastig.
»Das will ich auch gemeint haben«, knurrte Dr. Boyce und verließ sogleich den Raum. Tubber
Weitere Kostenlose Bücher