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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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überforderte ihn zu sehr. Und er spürte auch, dass da noch etwas sein musste; dass sich hinter Dünnbrots Worten etwas verbarg, das ihn noch viel stärker aufwühlte. Doch es war nur eine schemenhafte Ahnung, und Tubber hütete sich, tiefer zu graben.
»Sehen Sie! Dort!«, rief Dünnbrot überraschend aus. Bevor Tubber begreifen konnte, was er damit meinte, beschleunigte der Kommissar schon seine Schritte und ging auf ein wohl erst vor Kurzem ausgebranntes Haus zu; der ätzende Geruch von verkohltem Holz hing noch in der kühlen Luft. Irritiert folgte Tubber ihm und fragte sich, was Dünnbrot vorhaben mochte.
Auf dem Bürgersteig vor der Brandruine häuften sich die Überreste der Einrichtung, längst mehrfach nach Brauchbarem durchwühlt, sodass auf den ersten Blick nur noch ein Berg zertrümmerter Möbel und kaputten Hausrats zurückgeblieben war. Doch dort lag auch etwas, das die Plünderer ignoriert hatten, weil es für sie ohne Wert war.
»Bücher!«, sagte der Deutsche mit einer Begeisterung, die Tubber diesem Mann im Leben nicht zugetraut hätte. »Schauen Sie, hier! Lauter Bücher!«
Und tatsächlich, aus einem halben Dutzend hastig aufgestapelter Pappkartons quollen Bücher jeder Größe. Ohne zu zögern, begann Dünnbrot, den obersten Karton zu durchsuchen.
»Sie können doch nicht einfach etwas davon mitnehmen!«, protestierte Tubber.
Ohne seine Suche zu unterbrechen oder auch nur aufzuschauen, entgegnete Dünnbrot: »Wieso nicht? Ich glaube kaum, dass der frühere Besitzer sich noch mal melden wird. Und überhaupt, was meinen Sie denn, wie ich zu den meisten meiner Bücher gekommen bin? Gedruckt werden ja keine mehr, da muss man jede Gelegenheit nutzen. Und wenn es eine Hausdurchsuchung ist.«
»Sie sind mir ein schöner Polizist«, empörte sich Tubber. »Wie würde man so etwas mit einer Ihrer deutschen Redensarten nennen? Den Bock zum Gärtner machen?«
Jetzt erst ließ Dünnbrot für einen Moment von den Büchern ab und sagte mit einer überlegenen Gelassenheit, die Tubber gar nicht gefiel: »Denken Sie doch, was Sie wollen. Für mich jedenfalls sind Schiller und Homer, Shakespeare und Dante das Einzige, was überhaupt noch einen Wert besitzt. Diese Schätze Ignoranten fortzunehmen oder aus dem Dreck zu retten, ist kein Diebstahl. Hier, halten Sie das mal.«
Er drückte dem Engländer ein Buch in die Hände und wandte sich dann ohne einen weiteren Kommentar wieder den Kartons zu, um seine Suche fortzusetzen.
Tubber betrachtete den abgestoßenen blauen Einband. Der goldgeprägte Titel, Effi Briest , sagte ihm nichts. Übermäßig fesselnd konnte das Werk seiner Meinung nach nicht sein, denn die Ansichtskarte, die der letzte Eigentümer als Lesezeichen verwendet hatte, steckte noch immer zwischen den ersten Seiten. Schon wollte Tubber das Buch einfach in der Manteltasche verstauen, als ihm unvermutet der Name Herkules ins Auge stach. Auf dem kaum daumenbreiten Stück der Postkarte, das aus den Seiten des Buches ragte, standen weiß gedruckt auf schwarzem Grund die Worte Kassel-Wilhelmshöhe, Herkules , gefolgt von einer Reihe Daten und Abmessungen.
Tubber zog die Ansichtskarte aus dem Buch. Das Foto zeigte eine mit Fenstern versehene, in die Höhe gestreckte steinerne Pyramide, auf deren Spitze sich eine Statue des griechischen Halbgottes befand.
Das kann kein Zufall sein! , zuckte es durch Tubbers Kopf. Er sah sich eilig um und rannte dann auf eine Frau zu, die Feuerholz die Straße entlangschleppte.
Befremdet beobachtete Dünnbrot, wie der englische Geheimdienstoffizier die verschreckte Frau mit Fragen bombardierte und sich erst zufriedengab, als sie zögerlich mit dem Finger auf einen Punkt irgendwo in der Ferne zeigte. Der Mann wurde ihm langsam unheimlich.
»Das ist es!«, schrie Tubber triumphierend heraus, ließ die vollkommen verstörte Frau stehen und kehrte zu Dünnbrot zurück. »Ich habe die Antwort! Dort oben, dort ist Herkules!« Er wies mit einer schwungvollen Handbewegung in dieselbe Richtung wie die Frau, die Wilhelmshöher Allee hinauf. An ihrem westlichen Ende standen am Fuße eines Berghangs die rußgeschwärzten Mauern des Schlosses Wilhelmshöhe, und weit oberhalb der Schlossruine erhob sich auf dem Bergrücken ein massiges, kantiges Bauwerk, eingehüllt in trübe Dunstschleier.
»Verstehen Sie denn nicht? Das da oben ist der Herkules«, erklärte Tubber aufgeregt, als Dünnbrot nur mit einem Stirnrunzeln reagierte. »Eine Statue! Dieser Tote wollte sich überhaupt nicht mit

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