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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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verkaufen wollte.« Und Tubber konnte aus den zwei Zeilen noch mehr herauslesen. Der Zettel war zweifellos nicht von derselben Person geschrieben worden, von der die Eintragungen im Notizbuch stammten. Die Handschriften waren grundverschieden, das Datum ließ auf einen englischsprachigen Verfasser schließen und die Uhrzeit entsprach dem 24-Stunden-Format der US-Armee. Es war vielleicht ein erster Hinweis auf die Identität von Herkules Svensson.
Tubber blickte auf und sah, dass Kommissar Dünnbrot gerade dabei war, den Mantel des Verstorbenen anzuprobieren.
»Würden Sie das freundlicherweise unterlassen«, ermahnte er den Deutschen ärgerlich.
»Und weshalb?«, entgegnete Dünnbrot verständnislos. »Der Mantel ist in gutem Zustand, und er hat fast genau meine Größe. Es wäre eine Schande, ihn hier verkommen zu lassen.«
»Ziehen Sie ihn wieder aus«, beharrte Tubber. »Das ist ein Beweisstück und Eigentum der britischen Krone. Außerdem finde ich es geschmacklos.«
Mürrisch gehorchte der Kommissar, streifte den schweren Mantel wieder ab und stieß dabei mit der Hand gegen die Leiche. Der linke Arm des Toten rutschte von der Kante des schmalen Tisches und hing schlaff herab. »Auch das noch«, murmelte Dünnbrot, warf den Mantel ins Regal und ergriff den baumelnden Arm, um ihn wieder an seinen Platz zu legen. »Schau einer an«, bemerkte er dabei, »ein ehemaliger SS-Mann.«
Tubber horchte auf. »Was sagen Sie da?«
»Ein ehemaliger SS-Mann«, wiederholte der Polizist und zeigte auf einen unauffälligen dunklen Fleck auf der Innenseite des linken Oberarms. »Das hier ist eine Blutgruppentätowierung. Die hatten nur Angehörige der Waffen-SS. Wussten Sie das denn nicht?«
»Doch, doch, natürlich«, versicherte Tubber und beugte sich vor, um die dunkle Stelle aus der Nähe zu betrachten. Es handelte sich tatsächlich um die kaum einen Zentimeter großen Buchstaben AB , mit schwarzer Tinte in die Haut tätowiert.
Tubber konnte fühlen, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Plötzlich war ihm alles klar. Es war so eindeutig, so logisch! Diese zwei kleinen Buchstaben an der Leiche eines Fremden änderten alles. Er musste sich zusammennehmen, um nicht vor Begeisterung einen Freudensprung zu machen. »Das ist es!«, rief er aus.
»Ich sehe es genau vor mir! Im Krieg wurden zahllose Kunstwerke ausgelagert und gelten seitdem als verschollen, richtig? Aber einige alte Nazis kennen die Verstecke und verkaufen die Werke über Mittelsmänner für viel Geld an Sammler in den USA.
So finanzieren sie etwas, das sie als Ragnarök bezeichnen. Es muss ein furchtbarer Plan sein ... etwas, das viele Menschen das Leben kosten soll. Vielleicht ein großer bewaffneter Aufstand oder etwas in der Art ... aber nun bin ich ihnen auf der Spur!«
»Ein Aufstand?«, fragte Dünnbrot irritiert nach. »Wie soll das gehen? Die verbliebenen fünfzehn oder zwanzig Millionen da draußen würde nicht mal Christus persönlich zu irgendwas bewegen können. Die sind innerlich längst tot, die glauben an nichts mehr, weder im Guten noch im Bösen. Mit denen kann man keinen Aufstand anzetteln.«
»Dann planen die Nazis halt etwas anderes Grauenvolles. Und ich werde es verhindern«, sagte Tubber mit glänzenden Augen.

Die letzten Tropfen eines kurzen Schauers fielen gerade vom hellgrau bewölkten Himmel, als Tubber und Dünnbrot aus dem Hauptportal ins Freie traten und die breite Freitreppe zum Schlieffenplatz hinuntergingen. Auf der letzten Stufe hielt Dünnbrot kurz inne und drehte sich noch einmal zu dem Gebäude um, das sie gerade verlassen hatten. Vor ihm ragte mit brutaler Strenge die vier Stockwerke hohe, weit ausgreifende Fassade auf; die unerbittliche rechtwinklige Ordnung der langen Fensterreihen wurde nur unterbrochen von den kantigen Granitpfeilern des monumentalen Portals und der gewaltigen Treppe, flankiert von zwei überlebensgroßen Statuen namenloser, nackter Heroen, die ihre unruhigen Pferde bändigten. Jeder Stein, jede Fuge des riesigen Bauwerks schien einen unerbittlichen Anspruch auf Ewigkeit zu erheben. Dünnbrot schauderte. So rasch er nur konnte, wandte er sich wieder ab und folgte Tubber, ohne noch einmal zurückzublicken.
Der Engländer hatte nicht einmal bemerkt, dass sein Begleiter für einen Moment stehen geblieben war. Seine Gedanken kreisten immer noch einzig und allein um die berauschende Vorstellung, dass er einer geheimen Organisation gefährlicher Nazis auf der Spur war, die er aufdecken und vernichten würde. Und

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