Im Jahre Ragnarök
atmete auf, als der cholerische Ire die Tür mit einem schweren Krachen hinter sich zuschlug. Dann wandte er sich dem Toten zu und suchte den Körper Zoll um Zoll ab.
»Können Sie überhaupt etwas erkennen?«, fragte Dünnbrot, der Tubber über die Schulter sah.
»Wird schon gehen«, entgegnete der Engländer kurz angebunden. Allerdings hätte er sich wirklich eine bessere Beleuchtung gewünscht als die beiden nackten 15-Watt-Birnen an der Decke, die eine höchst dürftige Helligkeit verbreiteten. Es waren keine idealen Lichtverhältnisse, um eine Leiche zu untersuchen. Andererseits war der Raum auch nicht dafür vorgesehen. Mangels Alternativen hatte man den Körper in einem der nicht mehr benötigten Kühlräume gelagert, die zur Küche des ehemaligen Kasseler Wehrkreis-Dienstgebäudes gehörten, eines riesigen Komplexes, der einst der Deutschen Wehrmacht gehört hatte und in dessen über sechshundert Büros sich nun die Verwaltung der kleinen britischen Garnison verlor. Der Tote lag in der Mitte des vollständig weiß gekachelten Raumes auf einem schmalen Tisch mit dicker, zerkerbter Holzplatte, auf dem man früher vermutlich Fleisch zerlegt hatte. An den Wänden standen deckenhohe Holzregale, und in einem von ihnen lagen sorgfältig nebeneinander aufgereiht und ausgebreitet die Kleidungsstücke und Habseligkeiten des namenlosen Verstorbenen.
Tubber betrachtete das Gesicht des Toten. Außer einer auffälligen alten Narbe, die quer über die rechte Wange verlief und erst knapp ein Fingerbreit unter dem Auge endete, konnte er nichts Außergewöhnliches entdecken. Um ein Dutzendgesicht handelte es sich freilich auch nicht, denn das sehr kantige Kinn und die abstehenden Ohren verliehen dem Kopf etwas Unverwechselbares. Auch wenn die Züge ansonsten eher durchschnittlich waren, bis hin zu den nichtssagend normalen Augenbrauen und dem oberhalb der Ohren schon leicht angegrauten mattblonden Haar, hätte selbst ein wenig aufmerksamer Beobachter diesen Mann in einer großen Menschenmenge leicht wiedererkennen können.
So gut es das spärliche Licht zuließ, suchte Tubber die Leiche nach Merkmalen ab, die ihm Aufschluss über die Identität des Toten hätten geben können. Doch er entdeckte nur einige unbedeutende kleine Narben, die wie die Verletzung an der Wange schon vor vielen Jahren verheilt waren und vielleicht noch aus dem Krieg stammten. Als er meinte, an der Leiche selber nichts von Bedeutung finden zu können, ging er hinüber zum Regal, um die Habe des Toten in Augenschein zu nehmen.
Als Erstes wickelte er das in mehrere Lagen Seidenpapier eingeschlagene Gemälde aus. Zum Vorschein kam ein Bild von sehr bescheidenen Ausmaßen, kleiner noch als ein Briefbogen. Es zeigte, auf daumendickes Holz gemalt, vor nachtschwarzem Hintergrund das Gesicht eines bärtigen Mannes, dem die dunkelblonden Haare in Wellen bis über die Schultern fielen. Über seinem Mittelscheitel und auf Höhe der verdeckten Ohren kräuselten sich goldene Ornamente. Sechs Buchstaben unter dem Kragen des angedeuteten schlichten Gewandes verrieten, wen das kleine Gemälde darstellen sollte: IHS XPS .
»Aha, Jesus Christus«, sagte Tubber. »Also wohl ein Andachtsbildchen oder so was. Könnte ziemlich alt sein.«
Dünnbrot zeigte sich unbeeindruckt und gab nur ein kurzes »Schon möglich«
von sich, begleitet von einem Schulterzucken.
Tubber drehte die kleine Tafel herum. Auf der Rückseite versteiften aufgeleimte schmale Leisten das Holz gegen Verformung. Ein Klebeetikett trug einen runden Stempel mit dem Wappenbild eines Schlüssels und den Worten KUNSTHALLE BREMEN .
»Jetzt ist immerhin schon mal klar, wer der letzte Besitzer dieses Gemäldes war«, stellte Tubber fest und packte das Bild vorsichtig wieder ein. Wenn es einmal in einem Museum gehangen hatte, war es möglicherweise wertvoller, als es aussah.
»Und Sie wissen auch, wer eigentlich der augenblickliche Besitzer sein müsste«, fügte Dünnbrot mit säuerlichem Unterton hinzu.
Tubber begriff, worauf sich diese Bemerkung bezog: auf die Verordnung, die J. Edgar Hoover 1949 im Eilverfahren erlassen hatte, nur zwei Tage, nachdem er durch Präsident Lindberghs Flugzeugabsturz vom Vizepräsidenten zum Herrn im Weißen Haus aufgestiegen war. Mit einem Federstrich hatte Hoover bestimmt, dass sämtliche Kunstschätze deutscher Museen als kulturelle Kriegsentschädigung in den Besitz der Vereinigten Staaten übergingen. Wer mit Kunstwerken aus ehemaligen deutschen Museumsbeständen handelte,
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