Im Jahre Ragnarök
Seesen, von der Tubber vermutete, dass sie mit ihren Fachwerkhäusern vor vielen Jahren, ehe die Vernachlässigung ihren Tribut forderte, einmal recht malerisch ausgesehen haben könnte. Östlich der Stadt ragten vor dem schlierig grauen Himmel bewaldete Höhenzüge auf und erstreckten sich in die Ferne, bis sie in Nebelschwaden verschwanden.
»Der Harz«, erklärte Dünnbrot ungefragt und lenkte mit einem harten Reißen am Steuerrad den Wagen um ein im Straßenpflaster klaffendes Loch herum.
»Sieht wie eine nette Gegend für Wanderausflüge aus«, meinte Tubber und wurde sich noch im gleichen Augenblick bewusst, wie wirklichkeitsfern diese Bemerkung doch war. Selbst daheim in England konnte es sich kaum jemand leisten, Gedanken an so nutzlose Dinge wie Wanderungen zu vergeuden. Wie mussten diese Worte dann erst für Dünnbrot klingen?
»Davon würde ich Ihnen abraten«, meinte der Deutsche. »In den abgelegenen Tälern haben sich schon vor Jahren verschrobene Sekten niedergelassen, um dort ungestört auf das Ende der Welt, die Wiederkunft Christi oder Gott-weiß-was zu warten. Diese Leute mögen keine Besucher, das mussten schon so manche am eigenen Leib erfahren. Wer einigermaßen bei Sinnen ist, hält sich fern vom Harz.«
»Sekten? Sagten Sie nicht mal etwas in der Art, dass die Deutschen jeden Glauben verloren hätten?«
Dünnbrot reagierte nicht sofort. Er dachte kurz nach und antwortete dann: »Auf die meisten trifft das ja auch zu. Es gibt eben keine Regel ohne Ausnahme.«
Stumm nickte Tubber. Er musste an die weltabgewandten presbyterianischen Gemeinschaften denken, die sich in den vergangenen Jahren in unzugänglichen Winkeln des schottischen Hochlands angesiedelt hatten und von der Regierung in London wohlweislich in Ruhe gelassen wurden. Und er hatte gehört, dass es ähnliche Erscheinungen in allen Ländern Europas gab. Manche versuchten halt, auf ihre Weise die aussichtslose Misere dieser Zeit hinter sich zu lassen, und gingen in ihren Illusionen auf. So, wie der Unbekannte mit dem gepuderten Haar, den Tubber schon fast vergessen hatte. Doch nun stand das Bild seines kurios kostümierten zerschmetterten Körpers unvermittelt wieder vor seinem inneren Auge, so überraschend, dass es Tubber einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Schnell verdrängte er diese seltsam aufwühlende Erinnerung wieder und starrte aus dem Auto, um die Gedanken in eine andere Richtung zu zwingen.
Der Nebel über den Harzgipfeln wurde dichter und glitt schleichend die Hänge hinab.
Hinter Seesen führte die Fahrtroute der beiden Männer nordwärts, bis sie kurz nach Einbruch der Dunkelheit schließlich in Braunschweig eintrafen. Zwar wäre es Tubber lieber gewesen, ohne zeitraubende Übernachtung auf halber Strecke bis nach Berlin durchzufahren, doch inzwischen konnte er die Straßenverhältnisse einschätzen und wusste, dass es zu gefährlich wäre, die Reise bei Nacht fortzusetzen.
Es gab in der Stadt keine britische Garnison, sondern nur einen kleinen Posten der Militärpolizei. Als Nachtlager mussten daher die harten Pritschen einer nicht benötigten Arrestzelle herhalten. Am darauffolgenden Morgen gelang es Tubber abermals, durch wortreiche Vermischung von Tatsachen und fiktiven Befugnissen neues Benzin aus dem knapp bemessenen Kraftstoffvorrat der Militärpolizei zu erhalten, ehe Dünnbrot und er die Fahrt fortsetzten.
Der Deutsche hatte sehr schlecht geschlafen. Es war Tubber nicht entgangen, dass sein Begleiter sich die halbe Nacht hindurch unruhig herumgewälzt und dabei wieder und wieder unverständliche Dinge gemurmelt hatte. Daher übernahm Tubber trotz seiner beständig schwelenden Kopfschmerzen als Erster das Steuer, während Dünnbrot die Uniformmütze tief in sein Gesicht zog und ein wenig Schlaf nachholte.
Tubber steuerte den Volkswagen auf die an Braunschweig vorbeiführende frühere Reichsautobahn Hannover – Berlin. Der ehemals makellos weiße Beton der Fahrbahn war schon lange schmutzig grau, übersät mit unzähligen, nur zum Teil (und wenn, dann nur notdürftig) aufgefüllten Löchern und durchzogen von klaffenden Rissen, aus denen Unkrautbüschel wucherten. Und dennoch war diese Autobahn besser als jede andere Straße, die Tubber in den vergangenen vier Tagen zu Gesicht bekommen hatte. Die Pioniere der US-Armee taten ihr Bestes, um die rapide zerfallende Autobahn befahrbar zu halten, denn angesichts der notorisch unzuverlässigen und verrotteten Eisenbahn stellte diese Straße die einzige
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