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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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sich hinter das Steuer, Dünnbrot nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Mit einem rasselnden Knattern sprang der Heckmotor an, und der Volkswagen rollte durch den geöffneten Schlagbaum des Garagenhofes hinaus auf die Straße.

Schon wenige Kilometer nördlich von Kassel kam es zu einer Unterbrechung der Fahrt. Kommissar Dünnbrot hatte zu viel von dem widerwärtig schmeckenden, dafür aber reichlich vorhandenen Ersatzkaffee getrunken, der in der Garnisonsmesse zum Frühstück ausgeschenkt worden war. Nun musste er dringend austreten, und Tubber sah ein, dass sich bei aller Eile nichts dagegen ausrichten ließ. In einem verlassenen Dorf, dessen Name der Straßenkarte zufolge Sielen lautete, legten die beiden Männer einen Zwischenhalt ein.
Während Dünnbrot eilig hinter einer Häuserecke verschwand, stieg Tubber aus dem Wagen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Jede Ablenkung war ihm recht, denn ein weiteres Mal plagten ihn heute die nie endenden Schmerzen, die stoßweise durch seinen Schädel pulsierten und an diesem Tag auch noch von etwas verstärkt wurden, das ihm wie ein zentnerschwerer Druck erschien, der auf seinem Hirn lastete.
Das Dorf bot einen traurigen Anblick. Der Wind wehte durch zersplitterte Fenster und verursachte ein beständiges leises Pfeifen, wenn er über die Kanten der eingeschlagenen Scheiben strich; bei vielen der Fachwerkhäuser waren Teile der Dächer eingestürzt, sodass die nackten Dachstühle frei lagen.
Als Tubber sich ein wenig umsah, blieb sein Blick an dem giebelseitigen großen Tor des Hauses haften, vor dem er sich befand. Der Rahmen aus dunklen, mehrere Zoll starken Balken war zu beiden Seiten mit Rankenwerk und der schlichten Jahreszahl 1701 verziert. Darüber war eine lange Inschrift in schnörkelreichen Buchstaben ins Holz eingeschnitzt, doch Tubber tat sich mit dem altertümlichen Deutsch schwer. Alle die fürüber gehen undt mich kennen denen gebe Gott waß sie mier gönnen , entzifferte er die erste Zeile; dann kapitulierte er und ließ den Blick weiterschweifen zum Nachbargrundstück. Dort befand sich, ein wenig zurückgesetzt von der Straße, ein ausgebranntes größeres Gebäude. Ein Schild an der Einfahrt, von dem die Farbe in kleinen Fladen abblätterte, verwies noch immer auf seine frühere Bestimmung: Mühlenbetrieb Karl Schöttler . Irgendwo dahinter gurgelte müde ein Bach und verursachte, neben den gleichförmigen Geräuschen des Windes, die einzigen wahrnehmbaren Laute.
Die verheerende Grippeepidemie, die in den frühen fünfziger Jahren über Mitteleuropa hereingebrochen war, hatte im Bund Deutscher Länder ganze Landstriche vollkommen entvölkert und so wie dieses Dorf hinterlassen: als unaufhaltsam zerfallende Kadaver, aus denen jegliches Leben entwichen war. Zwar war das Tubber natürlich schon vorher bekannt gewesen, doch nun merkte er, dass es einen erheblichen Unterschied darstellte, ob man etwas nur abstrakt wusste oder ob man es drastisch und unmittelbar vor Augen geführt bekam. Das menschenleere, dem schleichenden Verfall preisgegebene Sielen erschütterte ihn zudem viel stärker als die Ruinenwüsten von Hamburg und Kassel, denn nichts in diesem Dorf verriet den Grund, weshalb es unbewohnt war. Die Grippe hatte keine Bombenkrater oder Trümmerberge hinterlassen, keine rostigen Panzerwracks oder verwitterte Holzkreuze mit Stahlhelmen auf grasbewachsenen kleinen Erdhügeln.
Während Tubber die verlassenen Häuser betrachtete, bemerkte er, dass etwas Seltsames in ihm vorging. Plötzlich glaubte er, den strengen Gestank von Stalltieren und Misthaufen zu riechen. Er meinte, vom Turm der kleinen Dorfkirche her Glockenschläge zu vernehmen, das Klappern von Hufen und das Rumpeln der eisenbeschlagenen Räder eines Fuhrwerks auf dem ungefügen Straßenpflaster. Er wusste, dass es nur ein Tagtraum war, ein unwillkürliches Spiel seiner Vorstellungskraft.
Jedoch hatte er noch nie einen Tagtraum wie diesen erlebt. Die eingebildeten Gerüche und Geräusche schienen sich nicht in seinem Kopf zu bilden, sondern wirkten beinahe so, als würden sie ihn tatsächlich als Sinneseindrücke von außen erreichen. Innerhalb von Augenblicken schienen sie sich zu verdichten, verloren immer mehr ihre traumartige Indirektheit und Schemenhaftigkeit, als würden sie mit aller Macht der Realität entgegenstreben. Fasziniert erlebte Tubber diese außergewöhnliche Illusion, als wäre er nur ein außenstehender Beobachter. Fast beängstigte es ihn schon, wie diese eingebildeten

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