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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Wahrnehmungen unaufhaltsam in den Vordergrund seiner Sinne drängten ...
»Sie kommen wieder!«, krächzte eine brüchige Männerstimme und riss Tubber mit einem Ruck aus seinem Tagtraum. Vor ihm stand ein vor Schmutz starrender, zahnloser alter Mann, dessen linkes Auge von einem dreckigen Lappen verdeckt wurde. Tubber fühlte sich merkwürdig desorientiert; wortlos sah er den Mann an.
»Oh ja, sie kommen zurück!«, wiederholte der Alte und verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen, mit dem er seine fauligen Zahnstümpfe entblößte. »Mein Enkel ist mit ihnen gegangen, ja! Und bald kommen sie wieder, und sie jagen dich und die anderen fort, Engländer!« Er stieß ein heiseres, abgehacktes Lachen aus, das Tubber das Blut in den Adern gerinnen ließ.
In diesem Moment kam Dünnbrot hinzu, packte den furchterregenden Alten an der zerlumpten Jacke und stieß ihn zurück. »Verschwinde!«, befahl er ärgerlich.
»Hörst du nicht? Mach, dass du wegkommst!«
Der alte Mann fixierte Tubber noch einmal mit einem trüben Blick aus seinem einzigen Auge, dann drehte er sich um und humpelte unter irrem Lachen davon.
»Was, zum Teufel, sollte denn das bedeuten?«, fragte der ratlose Tubber, der jetzt erst seine Verwirrung überwand und wieder Worte herausbrachte. »Kümmern Sie sich gar nicht darum, Herr Leutnant«, empfahl Dünnbrot und wischte seine Hände mit einem Taschentuch ab. »Gerede, weiter nichts. Überall im BDL tauchen von Zeit zu Zeit solche Gerüchte auf. Dann heißt es, eine der verschollenen Nazigrößen sei noch am Leben und würde junge Männer für eine neue SS oder Wehrmacht rekrutieren, um die Siegermächte aus Deutschland zu vertreiben. Dummes Zeug halt.«
Dünnbrots knappe Schilderung ließ Tubber aufhorchen. »Dummes Zeug, sagen Sie? Da wäre ich mir nicht so sicher! Es passt alles zusammen«, wandte er ein und legte grübelnd die Hand ans Kinn. Alles fügte sich perfekt in seine bisherigen Folgerungen ein. Das Bild gewann Konturen, und die heraufziehende Gefahr nahm eine feste Gestalt an – die Gestalt eines unbemerkt im Untergrund entstehenden Naziheeres, das jeden Tag losschlagen konnte. Sollte dieser Tag Ragnarök sein?
»Ich weiß, woran Sie denken«, unterbrach Dünnbrot rücksichtslos seine Überlegungen.
»So, meinen Sie? Wie wollen Sie das denn wissen?«
Kommissar Dünnbrot zuckte mit den Schultern. »Das ist kein Kunststück. Und ich kann Ihnen auch sagen, dass Sie einem Hirngespinst aufsitzen. Es ist ganz einfach unmöglich, heimlich eine Untergrund-Armee aufzustellen.«
»Ach? Und was bringt sie zu dieser Ansicht, wenn ich fragen darf?«, entgegnete Tubber trotzig. Dass der Deutsche seine absolut logischen und glasklar nachvollziehbaren Schlüsse entgegen aller Vernunft ablehnte, missfiel ihm.
»Nur meine Kenntnis dieses Landes und seiner Bewohner«, erwiderte Dünnbrot gelassen. »Die Leute sind innerlich tot und körperlich ausgebrannt. Wie viele junge Männer könnte man wohl insgesamt auftreiben, die sich überhaupt noch dazu bewegen lassen, für oder gegen etwas zu kämpfen? Und wie viele von denen wären dann auch körperlich als Kämpfer geeignet? Fünfhundert? Allerhöchstens tausend, schätze ich. Mit so einem lächerlichen Häuflein kann man doch nicht gegen die gut zehnfach überlegenen amerikanischen und britischen Besatzungstruppen antreten!
Sehen Sie's ein, Herr Leutnant – es kann ganz einfach keine verborgene Nazi-Streitmacht geben.«
»Das wird sich ja noch zeigen«, sagte Tubber ungnädig. Dass Dünnbrot ihn trotz aller eindeutigen Anhaltspunkte von seinen Folgerungen abzubringen versuchte, war lästig. Oder war dieses Verhalten sogar verdächtig? Führte der sonderbare Deutsche vielleicht etwas im Schilde? Doch diesen Gedanken schüttelte Tubber wieder ab; er wollte sich nichts einreden. Schließlich kannte er seine Schwächen.
»Fahren wir weiter«, meinte er und öffnete die Beifahrertür. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
* * *
    Nach zehn Kilometern trafen John Tubber und Günter Dünnbrot bei Karlshafen auf die Weser. Auf einer bedenklich in der Strömung schlingernden Pontonbrücke überquerten sie den nach Regen und Schneeschmelze angeschwollenen, sich lehmig braun dahinwälzenden Fluss. Nachdem sie dieses Hindernis überwunden hatten, setzten sie ohne Zwischenfälle ihre Fahrt über leidlich erträgliche Landstraßen und durch zumeist ausgestorbene Ortschaften fort.
Am Nachmittag passierten sie eine noch nicht völlig verlassene Kleinstadt namens

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