Im Jahre Ragnarök
ungewollt in den Vordergrund drängte. Und wenn es ihm doch einmal gelang, dieses peinliche Thema zu umschiffen, hörte er sich unversehens über die Boshaftigkeit des Schicksals lamentieren, was ihm mindestens ebenso unangenehm war.
Gedankenverloren blickte Dünnbrot eine Zeit lang in die züngelnden Flammen.
Dann begann er zu Tubbers Erstaunen unvermittelt zu erzählen:
»Meine Frau Dorothea und meine kleine Tochter Karla sind 1953 gestorben. Es war die Grippe. Und ich konnte nicht einmal bei ihnen sein. Ich musste, wie der ganze Ordnungsdienst, Menschen für die Schocker zusammentreiben. Sie hatten mich mit Antibiotika vollgepumpt und mich gezwungen zu überleben, während um mich herum alles in Tod und Wahnsinn versank. Erst als die Epidemie alle Grenzen sprengte, als nichts und niemand mehr sicher war, flüchteten die Schocker in Panik. Ich nahm die Antibiotika, die sie zurückgelassen hatten, an mich und bin nach Hause gerannt. Doch da war niemand mehr. Meine Familie war tot. Man hatte sie schon in einem Massengrab verscharrt. Ich weiß nicht einmal, wo. Seitdem lebe ich nicht mehr. Ich existiere nur noch.«
Er schaute auf und sah Tubber, der keinen Ton von sich geben konnte, direkt in die Augen. Sein Blick war fest und ruhig, doch seine Stimme war schneidend bitter, als er fortfuhr: »Glauben Sie also bloß nicht, das Leben hätte Sie in den Arsch getreten, Herr Leutnant. Wenn hier einer weiß, was es bedeutet, wirklich alles zu verlieren, dann ich. Verschonen Sie mich daher mit Ihrem elenden Selbstmitleid.«
Betreten verknotete Tubber die Finger. Er war unentschlossen, ob er auf Dünnbrots Schilderung, die ihm die Kehle zugeschnürt hatte, berührt reagieren oder sich von den letzten Sätzen des Deutschen angegriffen fühlen sollte. Die Entscheidung blieb ihm jedoch erspart, weil in diesem Moment ein Motorengeräusch an sein Ohr drang. Er sprang sofort auf, rannte hinüber zum Fahrbahnrand und begann, als er tatsächlich ein von Westen herannahendes Auto erblickte, heftig die Arme zu schwenken.
Und wirklich kam der Wagen wenige Schritte vor ihm mit ächzenden Bremsen zum Stillstand. Es handelte sich um einen großen weinroten Chrysler Royal Sedan der Vorkriegszeit, dessen einstige Vornehmheit schon lange unter stumpf gewordenem Lack und Dellen begraben lag. Doch für Tubber war es in diesem Augenblick das wundervollste Fahrzeug der Welt. Er trat unverzüglich an die Fahrertür, und als die Scheibe heruntergelassen wurde, sah er sich zu seiner Überraschung einer Frau gegenüber. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein und trug ihr rotbraunes Haar im Nacken zusammengesteckt. Doch das nahm Tubber nur am Rande wahr, und auch ihr schönes Gesicht mit den graublauen Augen interessierte ihn in diesem Augenblick nicht. Für ihn zählte nur, ob er mit ihrer Hilfe zur rechten Zeit an sein Fahrtziel gelangen konnte.
»Steckt die Armee Ihrer Majestät etwa in Schwierigkeiten?«, fragte sie launig auf Englisch und deutete auf den liegen gebliebenen Volkswagen.
»Das kann man wohl sagen«, meinte Tubber und stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. Er erklärte in kurzen, ein wenig überhasteten Worten die Situation und bat dann: »Könnten Sie mich freundlicherweise nach Potsdam mitnehmen, falls das auf Ihrem Weg liegt? Es hängt sehr viel davon ab.«
Sie antwortete nicht gleich. Stattdessen fixierte sie Tubber prüfend und misstrauisch.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre rechte Hand auf einem Browning ruhte, der neben ihr auf dem Sitzpolster lag. Dann aber entspannten sich ihre Züge, und sie sagte: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mitfahren und dafür bekomme ich Ihre Benzinkanister. Sind Sie einverstanden?«
Tubber stimmte auf der Stelle zu. Voller Erleichterung atmete er tief ein und nahm dabei einen süßlichen Geruch wahr, den Duft eines etwas ordinären, schweren Parfüms, der aus dem Wageninneren in seine Nase stieg.
Nun kam auch Dünnbrot hinzu, der das Geschehen bis dahin aus der Distanz verfolgt hatte.
»Und wer ist das dort, Mr. Tubber?«, wollte die Fahrerin wissen, als sie den Deutschen in der abgetragenen blauen Ordnungsdienst-Uniform sah.
»Wie? Ach so. Das ist Kommissar Günter Dünnbrot vom OD, der mir als Begleitperson zugeteilt ist. Kommissar, das hier ist ... hm ...« Jetzt erst bemerkte Tubber unangenehm berührt, dass er sich noch gar nicht nach dem Namen der Frau erkundigt hatte. »Chantal Schmitt, aus Luxemburg«, sagte sie, augenscheinlich amüsiert über die Sackgasse, in
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