Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
verfolgte, die sich nach der Injektion eines neuen Wirkstoffes in Krämpfen wand.
»Wirklich interessant«, war Köhlers einziger Kommentar.
»Interessant finden Sie das?«, keuchte Tubber. Sein Hals schmerzte.
»Aber natürlich«, meinte der Professor, zog Tubbers rechtes Augenlid in die Höhe und ließ es nach einem Blick auf den von geplatzten Äderchen überzogenen Augapfel wieder los. »Diese Reaktion beobachte ich sonst nur bei einigen von unseren Leuten. Nämlich bei denen, die durch ihre Handlungen während eines Aufenthalts in der Vergangenheit unwissentlich Einfluss auf ihre eigene künftige Existenz genommen haben. Da das bei Ihnen nicht der Fall sein kann, vermute ich, dass Sie ein wenig empfindlich auf das elektromagnetische Feld reagieren. Ja, wirklich interessant.«
In Tubbers Schädel dröhnte noch immer der Nachhall der Explosion des Schmerzes, doch er versuchte, es zu überspielen. »Und was wird aus diesen Leuten?«, wollte er wissen.
»Für eine Weile ziehen sie allerlei seltsame Effekte an, existieren gewissermaßen ständig im Niemandsland zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit. Man könnte sagen, sie werden zu einem wandelnden zeitlich-physikalischen Paradox. Und irgendwann halten sie das nicht mehr aus, werden verrückt und bringen sich um.«
Im Niemandsland zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit! Tubber erschrak, wenn er es auch nach außen nicht zeigte. Ihm kamen all die seltsamen Erlebnisse in den Sinn, die ihm widerfahren waren. Mehrmals war er in die Vergangenheit abgedriftet, so real und fassbar, dass es zuletzt die Grenzen bloßer Tagträume weit überschritten hatte. Als ihm im Wald von Carinhall eine alte Münze aus dem Nichts auf den Kopf gefallen war – sollte das einer jener seltsamen Effekte gewesen sein?
Und der Tote vor dem Bus! , schoss es durch Tubbers Hirn. Oh Jesus, wenn das nun gar kein kostümierter Spinner war? Wenn er wirklich aus dem 18. Jahrhundert hierher versetzt wurde, weil ich—nein, unmöglich! Alles Unsinn, purer Unsinn! Ich bin nie in die Vergangenheit gereist und habe mich also auch nicht zum wandelnden Paradox gemacht. Und überhaupt kann man nicht durch die Zeit reisen, man kann es nicht! Aber dessen war Tubber sich gar nicht mehr so sicher.
Der Professor stieg auf das Podest. »Genug Zeit vergeudet. Meine Herren, machen Sie sich darauf gefasst, etwas unglaublich Scheinendes zu erleben.«
Ohne ein weiteres Wort machte er einen Schritt nach vorne und verschwand in dem Vorhang aus bläulichem Licht.
Tubber und Dünnbrot waren fassungslos. »Verdammt, wo ist er geblieben?«, keuchte der Kommissar.
»Das werden Sie gleich sehen, meine Herren. Gehen Sie durch das Portal«, forderte Sperber sie auf.
Tubber verzog das Gesicht. Er traute diesem ganzen Schauspiel nicht. Doch ihm war bewusst, dass er keine Wahl hatte. Er stieg auf das Podest und machte beherzt einen großen Schritt vorwärts. Das Licht verschluckte ihn.
»Jetzt Sie«, meinte der SS-Major zu Dünnbrot, der sich immer noch sträubte.
Aber der Kommissar wollte nicht hinter Tubber, dem er doch so wenig zutraute, zurückstehen. Er trat vor das Lichttor und verzog das Gesicht. Für einen Moment blitzte in seinen Gedanken eine verschüttete Kindheitserinnerung wieder auf: Er stand mit seinen Freunden vor einem elektrischen Weidezaun und musste als Mutprobe den Draht berühren.
Dünnbrot holte Luft und ging in das Licht.

Ein Kribbeln erfasste seinen gesamten Körper, lief durch alle Nervenstränge, drang bis ins Innerste der Knochen. Für einen Moment war Dünnbrot, als würde er von einer warmen Brandungswelle sanft emporgehoben. Er fühlte sich schwerelos, von einer unwiderstehlichen Kraft hineingezogen in ein helles Nichts, mit dem er zu verschmelzen glaubte.
Doch dieselbe Kraft, die ihn in die gleißende Leere gesogen hatte, schien ihn auch wieder hinauszustoßen. Als er aus dem Lichtschein trat, wobei für die Dauer eines Wimpernschlags ein beängstigend intensives Gefühl der Traurigkeit über ihn kam, fand er sich unversehens unter einem strahlend blauen Himmel wieder.
Der neonbeleuchtete Keller war verschwunden; Dünnbrot befand sich im Freien, in kniehohem gelblichem Gras, und spürte den Wind über sein Gesicht streichen.
Vor ihm standen der überlegen grinsende Professor und Tubber, der sich mit fassungsloser Miene und offenem Mund umsah.
Dünnbrot brachte keinen Laut heraus. Orientierungslos machte er einige zögerlich tastende Schritte, ohne Ziel und Richtung. Seine Verwirrung war so groß,

Weitere Kostenlose Bücher