Im Jahre Ragnarök
desinteressiert. »Aber wir haben uns entschieden, andere Wege zu gehen. Es ist viel zu gefährlich, unbedachte Änderungen an der Vergangenheit vorzunehmen.«
Sperber, der mit Dünnbrot zurückgekehrt war, deutete auf seine Armbanduhr.
»Es wird Zeit, Herr Professor. Die Besprechung beginnt in zehn Minuten.«
In 3500 Jahren und zehn Minuten , dachte Tubber und erschauderte.
Einer nach dem anderen traten die vier Männer wieder in das Zeitportal. Dünnbrot sah noch einmal zurück auf das im hellen Sonnenschein wogende Gras, bis Sperber ihn drängte, weiterzugehen.
Der SS-Major verschwand als Letzter im blauweißen Licht. Gleich darauf erlosch es schlagartig mit einem kurzen statischen Knacken, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
* * *
In dem lang gestreckten Saal, dessen weißgekalkte Gewölbedecke auf zwei Reihen massiger Steinsäulen ruhte, versammelten sich die Offiziere. Manche von ihnen trugen die spanischen Rotkreuz-Uniformen, die verrieten, dass sie kürzlich mit den Konvois aus den aufgelösten Ausbildungslagern eingetroffen waren; die meisten aber waren in olivgrüne oder gefleckte amerikanische Monturen mit aufgenähten SS-Rangabzeichen gekleidet. Sie suchten sich Plätze in den Stuhlreihen; ihre Unterhaltungen waren gedämpft, eine Atmosphäre erwartungsvoller Spannung lag über allem. Am Kopfende des Saals stand ein schlichtes Rednerpult bereit, an dessen Vorderseite als einzige Verzierung die stählernen SS-Runen prangten. Dahinter hing, überschattet von einem riesigen metallenen Adler mit ausgebreiteten Schwingen und Hakenkreuz in den Fängen, eine noch aufgerollte Landkarte an der Wand.
Der Professor hatte Tubber und Dünnbrot gleich, nachdem sie eingetreten waren, bei Sperber zurückgelassen und war durch eine Tür neben dem Rednerpult verschwunden. Tubber, immer noch benommen nach der Erfahrung, Tausende von Jahren mit einem einzigen Schritt überwunden zu haben, wurde für Sekunden schwarz vor Augen. Er taumelte leicht und musste sich an der Säule neben sich abstützen. In seinem Kopf dröhnte und rotierte es. Erst jetzt wurde ihm schleichend klar, wie sehr alle seine Begriffe von der Realität in ihren Grundfesten erschüttert waren und ins Wanken gerieten. Und Dünnbrot erging es, wie er sah, auch nicht besser. Der Kommissar stand neben ihm, starr wie eine Statue, das Gesicht weiß und die abwesenden Augen fiebrig glitzernd ins Leere gerichtet.
Sperber hatte derweil einen SS-Mann herbeigerufen und ihm den Befehl erteilt, in seiner Abwesenheit die beiden Gefangenen zu bewachen. Der Sturmbannführer wollte sich schon zum Gehen wenden, als jemand ihn von der Seite her ansprach:
»Wolfgang!«
Tubber zuckte zusammen. Dieses eine Wort genügte, ihn in Schrecken zu versetzen.
Er hatte die Stimme sofort erkannt.
Otto Pallasch trat heran, gekleidet in das stumpfe Braun des Spanischen Roten Kreuzes. Er wirkte erschöpft und hatte dunkle Ringe unter den Augen, grinste aber dennoch breit. »Lang net g'sehn. Gut schaust aus!«
»Na so was! Otto Pallasch lebt also auch noch. Du siehst auch gut aus, Otto«, entgegnete der Major grinsend. »Nur vielleicht ein wenig übernächtigt.«
»Geh, sitz du mal die ganze Nacht in einem rumpelnden LKW und versuch', zu schlaf'n. Da schaust am Ende auch net mehr taufrisch aus«, meinte Pallasch in seinem leicht schleppenden, nachlässigen Österreichisch, das so sehr mit Sperbers kantigem Hochdeutsch kontrastierte.
Jeder Laut aus Pallaschs Mund jagte Tubber eisige Schauder über den Rücken.
Dreimal zuvor hatte er den Mann, der nun kaum einen Meter von ihm entfernt stand, schon gesehen: in Potsdam, Berlin und Carinhall. Aber jetzt, hier, im hellen weißen Licht der Neonröhren, wurde es zur unausweichlichen Gewissheit: Dieser Pallasch glich dem toten Pallasch vom Hohlestein absolut, einschließlich der Narbe auf der rechten Wange—nicht einmal eineiige Zwillinge konnten einander so ähnlich sein. Es war, als gäbe es den Mann zweimal — einmal als Leiche und einmal als lebenden Menschen —, als wäre der ein gespenstisches Doppelwesen. Alles in Tubber sträubte sich dagegen, zu akzeptieren, dass Pallasch lebte. Er hatte ihn doch tot gesehen, eindeutig tot! Tubber spürte sein Herz rasen.
»Wir haben Gäste?«, fragte Pallasch mit einem neugierigen Blick auf die Gefangenen.
»Das kommt net oft vor.«
»Das da ist Leutnant Tubber, ein englischer Geheimdienstoffizier. Der Ordnungsdienst-Kommissar heißt Günter Dünnbrot, ein früherer Ordensangehöriger.
Sie wurden
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