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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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dass er zunächst nicht einmal bemerkte, wie hinter ihm Sperber aus der Lichtwand trat.
Als Erster fand Tubber seine Stimme wieder. Irritiert und kaum verständlich ächzte er: »Wo in Gottes Namen sind wir?«
»Die präzise Frage, Mr. Tubber«, belehrte ihn Köhler, »wäre doch: Wann und wo sind wir.«
Er ließ eine Sekunde verstreichen, und da weder Tubber noch Dünnbrot zu reagieren fähig waren, fuhr er fort: »Ich will es Ihnen sagen. Wir befinden uns auf dem Gipfel des Berges, der die Insel Thera im Ägäischen Meer bildet, und zwar am 26.
Juni des Jahres 1552 vor der Zeitrechnung.«
Dünnbrot riss eine Handvoll Ähren von den Grashalmen ab und befühlte sie unsicher mit den Fingerspitzen. »Das glaube ich nicht«, murmelte er.
»Es handelt sich um keine Frage des Glaubens. Sehen Sie sich um, überzeugen Sie sich«, forderte der Professor auf.
Tubber und Dünnbrot ließen die Blicke schweifen. Sie befanden sich auf einer annähernd runden, grasbewachsenen Fläche von vielleicht sechzig Schritten Durchmesser.
Ringsum wurde sie begrenzt von einem schartigen, mal kaum brusthohen, dann wieder mehrere Meter emporragenden Wall von schwarzgrauem Felsgestein, das aus dem leicht wogenden Gras zu wachsen schien. Über ihren Köpfen spannte sich ein tiefblauer mediterraner Himmel, an dem die Sonne im Zenit stand.
Wie in Trance ging Dünnbrot auf den felsigen Wall zu. Langsam stieg er von Stein zu Stein, bis er über den Rand hinwegschauen konnte. Er hatte gehofft, mit diesem Blick alles als einen Trick zu enttarnen. Doch nun hielt er den Atem an.
Vor ihm erstreckte sich bis zum fernen Horizont das Meer, das glitzernd das Blau des Himmels spiegelte. Viel weiter unten breiteten sich an den Hängen des Berges Haine und Felder aus. An der leicht geschwungenen Küste drängten sich weißgekalkte Häuser und Segelschiffe lagen im ruhigen Wasser, umgeben von kleinen Schwärmen von Ruderbooten.
»Das dort drüben im Süden«, hörte er Sperber hinter sich sagen, »ist Kreta.
Sehen Sie es?«
Dünnbrot antwortete nicht. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt imstande war zu denken.
Tubber war derweil in die Hocke gegangen und betastete verstört den Boden.
Immer wieder wälzte er Bröckchen porösen Gesteins in der Handfläche, bis er endlich die Kraft fand, sich wieder zu erheben. »Sie können also tatsächlich durch die Zeit reisen«, sagte er tonlos.
»Das haben Sie ganz richtig erkannt, Mr. Tubber.«
»Wie ist das möglich?«
Der Professor lächelte sphinxhaft und erklärte dann mit milder Überheblichkeit, als würde ein wohlmeinender Lehrer zu einem begriffsstutzigen Schüler sprechen:
»Das Grundprinzip ist, wie bei allen brillanten Erfindungen, großartig in seiner Schlichtheit. Alles basiert auf konstant modulierten elektromagnetischen Feldern.
Grob vereinfachend gesprochen, öffnet jede der unendlich vielen möglichen Modulationen ein Tor zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit und zu exakt berechenbaren geografischen Koordinaten. Natürlich müssen dabei Faktoren wie die topografischen Eigenschaften des Zielortes einkalkuliert werden, und durch Veränderungen des Erdmagnetfeldes ist der erreichbare Zeitraum begrenzt. Aber davon abgesehen ist es uns möglich, jeden Ort der Welt zu nahezu jedem beliebigen Zeitpunkt der letzten viertausend Jahre zu erreichen. Durch diese Zeitportale« – er wies auf die helle Lichtwand, die nur von vorne sichtbar, ohne Tiefe und Substanz mitten im Gras wie eine Tür in eine Geisterwelt aufragte – »liegt uns die Vergangenheit zu Füßen. Natürlich sind die tiefer gehenden physikalischen und technischen Aspekte für Sie unverständlich, daher werde ich mir nicht die Mühe machen, darauf genauer einzugehen.«
Tubber öffnete die Hand und ließ die Steine fallen. »Aber das ergibt doch keinen Sinn«, meinte er, wobei seine Zunge vor Aufregung schwer und störrisch war.
»Wieso haben Sie dann nicht längst die Vergangenheit zu Ihren Gunsten manipuliert?
Im Zweiten Weltkrieg gab es doch mindestens ein Dutzend entscheidender Momente, an denen Sie eingreifen könnten, um einen deutschen Sieg herbeizu...«
Er verstummte abrupt. Ihm war der furchtbare Gedanke gekommen, erst durch diese unbedachte Äußerung den Professor auf eine solche Idee zu bringen.
Doch Köhlers gelassene Reaktion zeigte, dass diese Vorstellung für ihn alles andere als neu war. »Wir haben zu Beginn tatsächlich mit dieser Möglichkeit gespielt«, bestätigte er

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