Im Kinderzimmer
schob dann leise die Tür auf. Jeanettas weizenblonder Kopf tauchte aus den Falten des Abendkleids hoch, das sie als Zudecke benutzte. Hier im Erdgeschoß war es kühler, trotzdem schwitzte Katherine in dem dünnen Baum-wollnachthemd, das sie übergestreift hatte. Die leuchtenden Farben im Raum zuckten so grell auf, daß Katherine die Luft einsog, dann geräuschvoll ausstieß. Ein hübsches Bild, das Kind in dem ach so erwachsenen Satin, im Mondschein, hübsch und beinahe komisch, wie sie sich die blanken Augen rieb und ernst herüberstarrte. Dann begann sie sich aus dem Stoff hervorzuwühlen, verhedderte sich mit dem Arm im Kleid. Ein Ratschen und der Arm war frei. Katherine legte den Finger auf die Lippen. »Scht!« machte sie erneut, »scht!«
»Mama«, sagte Jeanetta, »Mama, Mama, Mama. Helf mir, Mama.
Bin so hungrig. So hungrig. Bin ganz lieb.« Sie schwankte leicht.
Keine Spur von Aufsässigkeit, kein trotziger Stolz, ein verängstigtes kleines Kind. Sie streckte die Arme aus, und Katherine hielt sie einen Augenblick umklammert. Blind vor Tränen, die ihr über die Wangen liefen, begann sie zu zittern. In diesem Augenblick, als sie sich wankend in den Armen lagen, änderte sie ihren Plan. Essen und dann 241
raus hier. Egal wohin, Hauptsache weg, und wenn es dunkel war, und wenn sie halbnackt waren, raus, bloß weg! Weg! Mit einem Schlag wurde ihr klar, daß dies alles niemals aufhören würde, daß es keinen anderen Ausgang nehmen könnte, als daß sie selbst ausgelöscht wurden. Und bei der hastigen Umarmung voller verzweifelter Liebe und Zuneigung spürte Katherine die hervorstehenden Kinder-rippen, die eine viel deutlichere Sprache sprachen als noch so viele Tränen. Das Kind war so dünn! So entsetzlich dünn! Sein rasselnder Husten eine einzige Anklage.
Ganz sachte machte sie die Küchentür zu. Beide überkam ein Anflug von Hysterie, Katherine hätte lachen mögen, kichern wie bei einem heimlichen Mitternachtsbankett, selbst wenn sie – und das trotz der anhaltenden Übelkeit – plötzlich, wie aus dem Nichts, einen vollkommen klaren Kopf hatte und beachtliche Autorität annahm.
Jeanetta klammerte sich an ihr Nachthemd, wich ihr nicht von der Seite.
»Also«, flüsterte sie Jeanetta Anweisungen zu. »Kau so langsam, wie du kannst, damit dir nicht wieder schlecht wird. Dazu haben wir keine Zeit.«
Katherine, die nie so recht gewußt hatte, was man Kindern zu essen gab und die ihren mit dem fütterte, was sie gerade da hatte, wußte mit ihrer ungewöhnlichen neuen nächtlichen Klarsichtigkeit, daß die gut verdauliche Neutralität von Cornflakes im Augenblick das Ge-eignetste für Jeanette wäre. In noch ungewöhnlicherer weiser Voraussicht stopfte sie zwei Äpfel in die Handtasche, die sie in der Kü-
che hatte liegen lassen, dachte fiebernd voraus. In der Diele hing ein dünner Sommermantel, standen ein Paar Espadrilles, ausreichende Bedeckung für ihre Blöße. In der Handtasche kein Pfennig, kein Zufluchtsort, aber das spielte jetzt keine Rolle, nicht mehr. Sie muß-
ten nur entkommen, nebenan klingeln, so lange gegen eine Tür hämmern, bis sie eine Antwort bekamen, egal wie unwirsch. Keiner wollte hören, aber irgend jemand würde sie erhören müssen. Vielleicht konnte sie eine Reaktion erzwingen, wenn sie »Polizei!« durch den Briefschlitz rief und Jeanetta bat, einen ihrer markerschütternden Schreie loszulassen. Aber das hatte Zeit, Zeit, die sie jetzt verloren.
Jeanetta schaufelte eine kleine Portion Cornflakes auf unerwartet 242
manierliche Weise in sich hinein. Offenbar war sie von ihrer Angewohnheit, alles zu Brei zu zermatschen, kuriert. Ein dürres Ärmchen führte den Löffel mit elegant rhythmischem Schwung zum Mund, als habe sie eben erst begriffen, daß dies die wirksamste Methode der Nahrungsaufnahme war. Über den Rand der Schale hinweg schaute sie unentwegt ihre Mutter an. »Langsam, mein Schatz, nicht so hastig.« Katherine hätte den Prozeß am liebsten abgekürzt, wäre gern sofort, auf der Stelle aus dem Haus geflohen, brachte es aber nicht über sich, dem Kind das bescheidene Mahl zu versagen. Ihr überwach arbeitender Verstand sagte ihr, daß das Kind tatsächlich lange kaum mehr als Krümel bekommen hatte. Sie mußte geistig umnach-tet gewesen sein, eine Schlafwandlerin, verrückt, sich so lange vorzumachen, daß sie allein verletzlich, sie diejenige war, die gefährdet war. Einen Augenblick lang fühlte sie sich stark wie eine Löwin.
»Noch, Mama. Bitte.«
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