Im Kinderzimmer
Großer Gott. Diese vollendeten Manieren.
Die Folgsamkeit selbst.
»Nein, mein Schatz, jetzt nicht. Wir gehen jetzt.«
»Wohin?«
»Zu Mrs. Harrison.«
»Oh, jaaaa.« Ein langgezogener Seufzer der Erleichterung. Jeanetta, die auf ihrem Stuhl kniete, kletterte herunter und lief auf die Kü-
chentür zu.
»Warte. Wir müssen ganz, ganz leise sein.« Ach, wie hatte sie bloß ein Ziel nennen können, eines, das helle Aufregung auslöste, wo doch die Haustür abgeschlossen war! Wie hatte sie das bloß vergessen können!
»Komm zurück, mein Schatz, komm hierher. Nicht dort lang. Aus dem Fenster.« Katherine war vollkommen klar im Kopf, ihre Worte klangen bestimmt, entschieden, die sonstige Zögerlichkeit fehlte gänzlich, und Jeanetta folgte.
Das Küchenfenster hatte einen Sicherheitsriegel, jedoch kein Schloß. Von innen ließ sich das Fenster zu beiden Seiten gegen Ein-dringlinge sichern, indem am Rahmen befestigte Riegel vorgeschoben wurden, die sich leicht von innen abschrauben ließen. Draußen unterm Fenster hatte David über den einstigen Kellereingang Bretter gelegt, damit nicht Passanten Abfälle in den Schacht warfen, Bretter, 243
die dick genug waren, um ihr Gewicht zu tragen, selbst wenn sie sprangen. Sie waren ja beide Fliegengewichte. Rasche Bewegungen, merkte Katherine, brachten Jeanetta aus dem Gleichgewicht, riefen das Husten hervor. Sie wankte auf unsicheren Beinen und bemühte sich, ihren Husten zu unterdrücken, während Katherine wieder neue Kraft fand und mit flinken Fingern die Riegel abmontierte. Gestern erst hatte sie von innen die Scheiben geputzt, hatte sich da schon die Lage der Riegel gemerkt. Als sie nun jedoch das Schiebefenster hochdrückte, bemerkte sie weitere Komplikationen. Wenn sie erst auf den Brettern standen, würden sie noch das Eisengitter überwinden müssen, doch alles wäre zu schaffen, wenn sie erst mit beiden Füßen in der Welt draußen ständen. Die Spitzen der Gitterstäbe konnte man umwickeln, dann hinüberklettern.
»Süße, hol doch rasch eines der Kleider aus der Spielecke.«
»Nein, bitte, Mama, du.« Jeanetta konnte es nicht ertragen, den Raum noch einmal zu betreten. Katherine lächelte sie beschwichtigend an, rannte durch die Küche, zerrte aus dem Kleiderhaufen den roten Umhang hervor, hetzte zurück, die Notwendigkeit von Schuhen oder Mantel beiseitefegend: lieber so, als das Risiko eingehen, die Tür zur Diele aufmachen zu müssen.
»Ich springe zuerst, mein Schatz, und fang dich auf. Jack schafft das allein.«
Jeanetta lächelte kläglich, das Gesichtchen angespannt. Katherine schürfte sich am steinernen Fenstersims die Schienbeine auf, das Fenster selbst lag höher über der Erde, als sie angenommen hatte. Sie ließ sich rückwärts über den Sims herabgleiten, sprang mitsamt ro-tem Umhang und landete mit dumpfem Knall auf den Brettern.
Schmerz schoß ihr ins Fußgelenk. Hastig warf sie den Umhang über die Gitterstäbe und wandte sich wieder dem Fenster zu.
»Jeanetta?« rief sie im Flüsterton, aufgeregt, voller Freude.
»Komm, mein Schatz, schnell.«
Schweigen. Kein Kinderkopf erschien im Fenster, kein Lebenszeichen, kein Laut. Das Rauschen der stolzen Kastanien an der Straße übertönte alles, eine laue Brise strich ihr wohltuend um die Beine, erfrischend nach der stickigen Luft im Haus.
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Verkehrt, verkehrt, alles ganz verkehrt! dachte Katherine plötzlich voller Furcht vor dem Dunkel, ich hätte sie doch einfach durch den Garten hinausführen können, über die Mauer klettern können, nach nebenan. Dort hätten wir einfach warten können, so wie wir sind, bis morgen früh. Sie schielte rasch nach dem sie umgebenden Gitter, schulterhoch, sehr hoch, aber nicht unüberwindbar.
»Komm, Jeanetta, schnell! Kletter einfach hinaus, ich fang dich auf. Du brauchst keine Angst haben.«
Noch mehr Stille. Katherine griff nach dem Sims, sprang hoch, um einen Blick in die Küche zu werfen. Nichts, nur das leere Fenster.
Viel weiter konnte sie nicht gucken. War das Kind umgekehrt, um etwas zu essen zu holen? Für Jack vielleicht? Katherine stand hilflos dort, unschlüssig, ob sie laut rufen sollte oder zurückklettern, um die Tochter zu holen, als sie ein Prickeln der Kopfhaut verspürte. Eben hatte sie leise fluchend erneut den Sims gepackt, um sich hochzuhie-ven. Sie drehte den Kopf zur Seite und erstarrte. Die Haustür stand offen. David lehnte dort kopfschüttelnd. In der Hand hielt er den alten Schlüssel zum Tor und den neuen Schlüssel
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