Im Kinderzimmer
zurück, spülte den Schmutz der Zweifel fort.
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»Komm, wir gehen hinunter. Nur eine Minute. Ich muß dir etwas zeigen.«
»Was denn?« Panik rauschte erneut in ihre Lungen.
»Nur eben etwas zeigen.«
Der elegante Treppenaufgang schien endlos, Hunderte von Stufen.
Sie sträubte sich, aber er verstärkte den Druck seines Armes, den er ihr um die Schulter gelegt hatte, manövrierte sie bis vor die imposan-te Haustür und öffnete sie. Dann blieb er mit ihr im Eingang stehen, auf der Schwelle. Die Küchentür links war zu, dahinter war nur das beruhigende Bollern des Boilers zu hören. Es fröstelte sie in ihrem Nachthemd. Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Hör zu, mein Schatz«, sagte er leise und blickte wie sie auf die breite Straße, »du kannst gehen, wann immer du willst. Dort ist die Freiheit. Sie gehört dir, wann immer du willst. Du kannst jetzt gleich gehen. Ich hole dir ein Paar Schuhe und einen Mantel.«
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite regte sich eine Kastanie, raschelte und wisperte in der lauen Luft. Ein Raunen, das unvermittelt und heftig einsetzte, Vorbote eines Gewitters. Auf gleicher Höhe mit den untersten Ästen der Kastanie schien eine Straßenlaterne, das Glas von Zweigen gepeitscht. Eine einsame Motte, vom Lichtschein im Hauseingang angezogen, schwirrte Katherine ins Gesicht. Sie bedeckte die Augen. Bis auf die Laterne und den schwachen Schein zweier von schweren Vorhängen kaschierter Lampen im Haus gegenüber war die Straße tot und leer wie eine Wüste, die Hitze verflogen. Katherine blickte voll unaussprechlichen Grauens auf die Szene, wurde von einer Woge blinder Panik erfaßt. Ihre nackten Füße scharrten auf dem kalten Stein der Stufe. Sie drängte sich rückwärts an ihren Mann, spürte seine Körperwärme, sah ihn die Motte in der hohlen Hand zerdrücken. Katherine klammerte sich an seinen anderen Arm, und sie traten über die Schwelle zurück ins Haus.
Schlafen. Nach einem Bad und etwas zu essen, nur schlafen. Einge-lullt vom frischen Duft der gewaschenen Haare, noch naß vom Badewasser, das sie am liebsten getrunken hätte. Zusammengekauert wie ein Fötus. Geborgen. Schlafen – allein die Vorstellung war berauschender als jede Halluzination. Mit der Hand auf dem geschwol-273
lenen Bauch schlafen. Jeanetta und ihre Oma schliefen. Sie war brav gewesen. Alles würde wieder gut.
Als John Mills begriff, daß er bei der Vergabe der Ehrungen übergangen worden war, brach er in Tränen aus. Die Schmach wurde ihm am Samstag morgen klar, als kein Brief kam, aber ein Kollege vom Kinderschutzbund anrief, in der Erwartung, sich gemeinsam mit ihm über die eigene Auszeichnung freuen zu können. Hätten sie beide zu den Auserwählten gehört, statt nur einer von ihnen, dann hätten sie sich gemeinsam lustig gemacht und sich gegenseitig versichert, was für eine Farce das Ganze war – was zählte schon so ein Wisch, welche Borniertheit! Ins Klo konnte man sich den höchstens hängen.
Eine alberne Urkunde und so eine Silbertrophäe aus einem dieser Nobelläden, na ja, versetzen könnte man das Ding vielleicht, aber am angemessensten war eben die Verbannung auf das gewisse Örtchen, eine verächtliche Geste, die keinem Besucher entgehen konnte. Nun plötzlich zählte es doch; nichts war mehr in Ordnung.
John weinte in der letzten Zeit oft und ungehemmt. Ihm kamen schnell die Tränen: bei freundschaftlichen Gesten, oder wenn er fru-striert war, vor allem jedoch beim Anblick von Tieren, leibhaftigen wie abgebildeten. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sein Engagement ganz von den Zweibeinern auf die Vierbeiner zu verlagern. Die Ehrung, wie lachhaft auch immer, hätte der Arbeit der vergangenen Jahre Gewicht verliehen, wäre ein Beweis dafür gewesen, daß sich der Einsatz gelohnt hatte, was John im Grunde bezweifelte. Und sie hätte ihn neu motiviert, ihm erlaubt, gestärkt weiterzumachen oder sich auf diesen Lorbeeren zur Ruhe zu setzen. Es zählte also doch, und wie es zählte! Matilda fand ihn mit drei Kätzchen auf den Knien; er streichelte sie reihum, während sie ihm die Krallen übungsweise in die Schenkel bohrten. Er sprach mit den Tieren, eigentlich aber mit sich selbst, auf jeden Fall aber waren seine Worte nicht für andere Ohren bestimmt.
Wenn sie ihn doch nur hätte für verrückt erklären können! Doch es fehlte ihm nichts außer Nähe und der Fähigkeit, Nähe zulassen zu können. Matilda war verwirrt, und ihre Verwirrung schwamm oben auf einem
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