Im Kinderzimmer
hinunter. Sobald er außer Sicht war, schwang er sich über eine Mauer, die unter normalen Umständen seine Kräfte überstiegen hätte und fand sich in einem kleinen Garten wieder –
verwahrlost und leer. So leer, daß er sich alles andere als sicher fühl-te und deshalb eine zweite, hohe Mauer überwand. Inzwischen war er leichtsinnig geworden, es war ihm alles egal, wenn er nur einen Rastplatz fand, wo er Lichter sah und um die Nähe anderer Menschen wußte – wobei er fest entschlossen war, weiterzuziehen, ehe diese anderen ihn sahen. Um jeden Preis wollte er erleuchtete Fenster sehen, um sein Gefühl der Verlassenheit zu lindern, und der Anblick von menschlichen Wesen war tröstlicher als der des leeren Himmels, würde die Dämonen im Zaum halten, die ihn in letzter Zeit in seinen Träumen heimsuchten. Als er schließlich im dritten Garten gelandet war, blieb ihm keine andere Wahl, als zu bleiben, denn die Kraft, die ihn Hals über Kopf bis hierhin getrieben hatte, verebbte im schmalen Brustkorb zur Begleitmusik heftigen Keuchens und einem stechenden Schmerz überm Herzen. Und dieser Garten war von allen bisherigen der angenehmste, brannte doch in sicherer Entfernung oben in den Fenstern des oberen Stockwerks des dazugehörigen Hauses Licht. Er machte es sich im Versteck unter den eleganten Stufen bequem, angetan lediglich von dem hervorragenden Schutz, den sie boten. Er wickelte sich in den roten Umhang und schlief, schlief unbekümmert weiter, als der Regen einsetzte.
Zum zweitenmal jedoch wurde ihm tiefer Schlaf zum Verhängnis, wiegte ihn weit über die Morgendämmerung hinaus in Bewußtlosigkeit bis in die Stunden hinein, da alle Welt schon auf den Beinen war. Autos unterwegs auf der Straße hinterm Haus, ein Abflußgur-geln dicht neben seinem Ohr, Fliegensummen. Die wiedererwachte Welt schickte ihm kleine warnende Schauer über die schmutzige Haut. Und dennoch sah er keinen rechten Grund zur Eile. Er war betäubt, seine Füße waren naß, er wußte nicht mehr, auf welchem Weg er hierhergelangt war. Als er sich mühsam aufgerichtet und geschüttelt hatte, kroch er unter den Stufen hervor in den Garten hinauf, erblickte undurchsichtige Flügeltüren und daneben, in einer vorspringenden Häuserecke, ein schmales Fenster etwa auf gleicher Höhe mit seinem Kopf. Aus irgendeinem Grund zog es ihn zu die-279
sem hübschen kleinen Fenster hin, das einen Spalt weit offenstand, zog ihn mit der vertrauten Kraft der Versuchung für einen hin, der nicht aus Überzeugung, wohl aber Gelegenheitsdieb war, beruhigt von der Stille des Hauses inmitten der allgemeinen Betriebsamkeit.
Er pirschte sich heran und reckte den Hals langsam, bis er durch die Scheibe sehen konnte und preßte die Nase ans Glas. Dann fuhren seine Hände erschrocken an den Hals, um den Schrei zu ersticken, der heraus wollte, und sein Herz machte in der Brust einen qualvoll schlingernden Satz. Direkt vor seinen Augen, von ihnen nur durch einen Zentimeter Glas getrennt, war ein fremdes Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Eine wilde Miniaturfratze, verzerrt durch die große Nähe, tränenverschmiert, hohlwangig und leichenblaß. Eine goldene Aureole blonden Haars umgab das weiße, plattgedrückte Gesicht, die Augen waren porzellanblau, der kleine rote Mund öffnete und schloß sich wie der eines Fischs, unverständliche Worte formend. Etwas oberhalb des Fensterbretts kämmten kleine, krallende Hände mit zerkauten Fingernägeln zu beiden Seiten der großen Augen die Scheibe. Dann begann das Gesicht zu schwinden, als wiche es zu-rück und hinterließ eine Atemwolke stummer Laute auf dem Glas.
»Meins«, schien die unhörbare Stimme zu sagen, »meins, meins, meins!«, während die Finger krallten und auf etwas zeigten. Der Mund hing ihm einen Moment offen; er sah die blutig gekauten Nä-
gel – wie seine eigenen –, stierte wie hypnotisiert auf diese fremden Hände, die hilflos an der Scheibe entlangschmierten. Die Lähmung hielt nur kurz an, dann fuhr ihm der Schrecken in die Füße, er wankte und stolperte kopflos ans äußerste Ende des Gartens, in die entgegengesetzte Richtung von der, aus der er gekommen war, wuchtete sich über eine nicht übermäßig hohe Mauer, krachte auf der anderen Seite durch ein windiges Spalier, hastete ungelenk auf ein Haus zu und irgendwelche Stufen hinunter, wo er gegen eine Kellertür rannte, auf die er unter tierähnlichem Winseln zu hämmern begann, gegen eine etwas höher gelegene Fensterscheibe klopfend wie ein
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