Im Kinderzimmer
Tee?«
»Danke, nein.«
Sophie hielt das Schweigen aber nicht lange aus. »Ich hoffe doch nicht, daß David die Schlösser anbringt, weil er die Gerichtsvollzieher erwartet?«
Mary lachte schallend, Musik in Sophies Ohren. »Dummerchen.
Aber nein! Nur haben sie so hübsche Sachen im Haus, daß sie sich tatsächlich gegen Einbrecher schützen müssen.«
»Ja, natürlich«, seufzte Sophie. Genau diese Begründung hatte sie dringend hören wollen. Sie war beruhigt.
Mary strich hinter dem Sessel der alten Dame vorbei und tätschelte ihr geistesabwesend die Schulter, während sie sich angewidert um-sah. Diese kitschige Tapete mit ihren gewaltigen Moosröschen, von denen die wenigsten farblich zum Teppich paßten! Drei Sätze inein-andergeschachtelter Beistelltischchen, zu Treppchen arrangiert und mit Spitzendeckchen geschmückt wie jenes, das auf dem Teetablett in der Küche bereitgelegen hatte, darauf die Kanne, wieder mit Knospenmuster. Vielfarbige Blüten auch auf den Vorhängen, und darunter Spitzenstores, hinter denen die Sicherheitsgitter vor den doppelt verglasten Scheiben verschwanden. Spitze säumte auch Kragen und Manschetten von Sophies weißer Bluse. Alles, einschließ-
lich Sophies Gesicht, in einem Zustand fortgeschrittener Konservierung. Für Mary hatte heute der Raum etwas von einer Leichenhalle und Mrs. Allendale von einem Relikt besserer Tage. Ihre Geschichten von Zeiten der Not waren schwer zu glauben, vorstellbar höchstens, daß auch bei den Allendales vielleicht nicht immer alles zum Besten gestanden hatte. Was sie irgendwie befriedigte.
»Man hat’s nicht leicht«, bemerkte John zum Hausmeister des Büro-gebäudes. »Sie sagen es, Mr. Mills, is mir’n Rätsel, wieso Sie das 112
machen.« John hätte samstags nicht arbeiten müssen, aber er hatte es immer getan, und Angewohnheiten sind schwer abzulegen. In seinen Bemühungen um »Kinder in Not« hatte er zwischen dem Wochenende und der Woche nie einen Unterschied gemacht, einer von Matildas regelmäßigen Vorwürfen, bis sie gelernt hatte, dem Streit dar-
über aus dem Weg zu gehen, gleichgültig zu werden und auf eigene Faust loszuziehen. Als John jedoch jetzt keuchend die Steintreppe in den obersten Stock des Altbaus hinaufstieg, dessen Sanierung schon lange anstand, hatte er das Gefühl, er wäre besser nicht zur Arbeit gegangen. Früher hatten ihn Zorn, Neugier und Überzeugung zahllose ähnliche Treppenfluchten hinauf in ähnlich desolate Stockwerke getrieben, mit einem Impetus, der ihm das Feingefühl und die Listig-keit verlieh, die ihm in anderen Lebensbereichen vollständig abgin-gen. Der dritte Einsatz heute, bei dem er wegen eben dieses Finger-spitzengefühls, das ihm Zugang auch bei verschlossenen Türen verschaffte, vom Verein vorgeschickt und als Kundschafter ausgenutzt wurde. »Wir haben hier wieder eine Beschwerde von ›Nachbarn‹, John. Eine Mrs. Singh, Nummer 41b, sagt: das Kind schreit permanent / ist den ganzen Tag nicht zu hören / ist nie zu sehen, und im Haus ein Saustall, es müsse etwas unternommen werden.« Kaum Variationen zu diesem Thema. Ein Eingreifen bei verdächtigten Familien bedurfte derart hieb- und stichfester Beweise für eine Anzeige wegen Kindesmißhandlung, daß oft jede Hilfe zu spät kam. Johns Aufgabe bestand darin, vorbeizuschauen, noch bevor die Behörden eingeschaltet wurden, so, als käme er auf eine Tasse Tee vorbei, freundlich lächelnd, unbedarft, bärtig, nicht dienstlich, mit Süßigkeiten für die Kleinen. Verweigerte ihm eine Familie den Zutritt, so blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zu gehen. Aber in fünf von zehn Fällen konnte er verhindern, daß ihm die Tür vor der Nase zugeknallt wurde, oft konnte er sogar erreichen, daß man ihn einließ.
War er erstmal drin, erkannte er mit von langen Jahren der Erfahrung geschultem Blick rasch, ob es sich um einen Fehlalarm handelte oder ob es ernst war. Er tat nichts anderes als zu reden, zuzuhören und zu beobachten, schweigend lange Schimpftiraden über sich ergehen zu lassen, aufmunternd nickend sich Fallgeschichten anzuhören, die 113
weit häufiger tiefe Hilflosigkeit erkennen ließen als bewußte Grausamkeit.
Wir dürfen niemals Kinder in die Welt setzen, hatte er Matilda beschworen, es ist unverantwortlich, ihnen eine so verderbte Welt zu-zumuten. Später bedauerte er, daß sie ihn beim Wort genommen hatte.
John setzte sein zaghaftes Lächeln auf und klopfte. Der Lack der Tür war zerkratzt, drinnen begann ein Hund zu
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