Im Königreich der Frommen (German Edition)
Nennenswertes aus der Ost-Provinz zu berichten. Im
Juli fingen die Proteste der jungen Schiiten wieder an. Oft waren es
nicht mehr als fünfzig oder einhundert, die demonstrierten.
Im Oktober war es
jedoch mit der relativen Ruhe auf einmal vorbei. Eine Polizeistation
wurde überfallen und in Brand gesetzt. Auf Sicherheitskräfte
wurde gefeuert. Vier Demonstranten wurden erschossen. Es gab große
Protestmärsche. Die Region schien vor einem bewaffneten
Konflikt zu stehen. Und das alles kurz vor Aschura, dem großen
Fest der Schiiten, im ersten Monat nach dem Ramadan. Also flog ich
gleich hin.
Sayed Ali war im
Sommer verhaftet worden. Beamte des Geheimdienstes kamen zu ihm nach
Hause und nahmen ihn mit. Sie verhörten ihn, fragten ihn nach
den Demonstrationen, wollten Namen haben von denen, die die Proteste
organisierten und von denen, die teilnahmen. Das hat er mir Anfang
Dezember erzählt, als ich ihn kurz in Qatif traf.
Aber Sayed Ali
hatte Glück. Er hat einen Verwandten bei den
Sicherheitskräften. Der intervenierte für ihn und bekam
ihn nach zwei Wochen frei. Sayed Ali musste eine Erklärung
unterschreiben, dass er nicht mehr an den Protesten teilnahm.
Seitdem musste er vorsichtig sein.
Deshalb empfahl er
mir jemand anderen: Hassan (den Namen habe ich geändert). Auch
der arbeitete bei einer Bank in Qatif. Außerdem bloggte und
publizierte er über die Belange der Schiiten in Qatif.
Das war die Stand
der Dinge, als ich am ersten Dezemberwochenende nach Qatif fuhr:
Auslöser der Eskalation war eine
Auseinandersetzung vor der Polizeiwache in Awamija Anfang Oktober,
dem Dorf am nördlichen Rand Qatifs. Dort hielt die Polizei zwei
alte Männer fest, damit sich ihre Söhne stellten. Die
hatten angeblich Proteste organisiert. Eine Menschenmenge
versammelte sich vor der Polizeiwache, warf Brandbomben und schoss
auf die Sicherheitskräfte. Nach saudischen Regierungsangaben
wurden elf Beamte verletzt.
„ Die
Leute in Awamija sind vor ein paar hundert Jahren aus der Hochebene
im Zentrum des Landes hierhergekommen“, erzählte mir
Hassan am Telefon. „Die Kultur der Wüste haben sie
behalten. Dass alte Männer festgenommen wurden, hat sie
fürchterlich in Rage gebracht.“
Am 20. November
wurde der 19-jährige Student Nasser Al Maheischi an einer
Straßensperre erschossen. Dem Bericht einer lokalen
Menschenrechtsgruppe zufolge ignorierte er auf dem Weg von der
Schule nach Hause die Aufforderung der Sicherheitskräfte
anzuhalten. Sie erschossen ihn mit vier Kugeln in den Nacken und
Hinterkopf.
Allerdings wollten
die Behörden seine Leiche nicht an seine Verwandten
herausgeben. Dagegen demonstrierten die jungen Leute. Auf dieser
Demonstration wurde der 24-jährige Student Ali Al Filfil
erschossen. Am nächsten Tag wurde seine Leiche durch die Stadt
getragen. Bei diesem Trauer- und Protestzug wurden zwei weitere
junge Männer erschossen: Munib Al Adnan (20) und Ali Al
Qureiris (26).
Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schreibt, ihr liege
ein Video vor, das zeige, Al Adnan und Al Qureiris hätten in
einer Gruppe ganz normal auf der Straße gestanden, als auf sie
geschossen wurde. Währenddessen standen Polizeifahrzeuge
dreißig Meter von der Gruppe entfernt, auf der anderen
Straßenseite. Al Adnan starb durch eine einzige Kugel in den
Kopf. Neun junge Männer, alle um die zwanzig, erlitten während
der Proteste Schussverletzungen.
Einer der vier
Getöteten, hat mir Sayed Ali später bestätigt, war
einer der vier, die mich im März an den Handgelenken durch die
Demonstration geführt haben wie einen Blinden. Sayed Ali sagte
nicht viel mehr dazu. Er schüttelte nur den Kopf. Ein junger
Mann war erschossen worden. Das schien nur das Bild zu bestätigen,
das er von den saudischen Sicherheitskräften hatte.
Ich habe nicht
weiter nachgefragt. Obwohl ich nichts zu dem Tod des jungen Mannes
beigetragen habe, fühlte ich mich schuldig. Nur: Was hätte
ich anders machen sollen? Hätte ich ihn vom Demonstrieren
abhalten müssen? Wenn ich es vorher gewusst hätte. War das
realistisch? Oder war es einfach so, dass der junge Mann für
das, was er glaubte, demonstriert hat. Und wohl auch dafür mit
seinem Leben bezahlt hat. Zu ändern war es nicht mehr.
Glaubt man den
saudischen Behörden, wurden die vier jungen Schiiten aber nicht
von Sicherheitskräften erschossen. D er
Sprecher des Innenministeriums General Mansur Al Turki sagte bei
einer Pressekonferenz in Riad, „unbekannte Kriminelle“,
die „auf
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