Im Königreich der Frommen (German Edition)
Straßensperren und Fahrzeuge aus den Gassen und
Straßen geschossen“ haben, waren für den Tod der
Vier verantwortlich. Reflexartig beschuldigte er den Iran, hinter
den Demonstrationen zu stehen.
Der Tod der vier
jungen Männer hat die Region von Qatif in Aufruhr versetzt. Die
Vier wurden zu Märtyrern, die für die Sache der Schiiten
gestorben sind. Videos der Sterbenden wurden mehrere tausend Mal auf
„Youtube“ und „Facebook“ angeschaut und
weitergeleitet.
Es sind
schreckliche Bilder, die da gezeigt wurden und werden. Ali Al
Filfils letzte Augenblicke im Krankenhaus: Aus einem runden
Kindergesicht starren leere Augen ins Nirgendwo. Blut quillt aus
einem kleinen Loch in seiner Brust. Ein Nothilfeteam im Krankenhaus
versucht verzweifelt, den leblosen Körper des 24-jährigen
wiederzubeleben. Bald müssen die Ärzte jedoch aufgeben und
lassen den leblosen Körper nach hinten sinken.
Untermalt von
trauriger Musik mit Texten über Unterdrückung und Folter
erzählen diese Videos die Geschichte der Proteste: die kleinen
Demonstrationen anfänglich, wie sie dann größer
wurden, dann die Erschossenen am Boden, schließlich die
Trauerzüge, während derer die Toten nach dem lokalen
Brauch mehr als eine Stunde auf Händen durch die Stadt gereicht
wurden, und als Höhepunkt schließlich die großen
Trauermärsche, als mehrere Zehntausend durch Qatif zogen.
Die Bilder des
ersten Trauerzuges haben am meisten Aufmerksamkeit erregt. Rund
3.000 Leute nahmen teil. Nun waren es aber nicht mehr nur junge
Männer, die demonstrierten. Sie kamen aus allen Altersgruppen.
Die Fäuste in den Himmel stoßend skandierten die
Demonstranten: „Tod den Al Saud!“
Hassan war auf
diesem Protestzug. „Hinter mir lief ein pensionierter
Armeeoffizier, der laut mit sich gerungen hat, bevor er eingestimmt
hat“, erzählte er, um zu unterstreichen, wie tief der Tod
der jungen Männer die Schiiten in Qatif getroffen hat.
Danach ist die
Gewalt eskaliert. Ein paar Nächte lang hallte schweres
Gewehrfeuer durch die Straßen. Die Tonspur der Videos dieser
Nächte hört sich an wie Trommelfeuer von der Front. Einige
Häuserwände im Süden der Stadt, sah ich bei meinem
Besuch, waren noch immer mit einem dichten Netz von Einschusslöchern
überzogen.
Überrascht
waren jedoch nicht viele in Qatif über diese Eskalation. Dass
auch Leute auf der Seite der Demonstranten auf die Sicherheitskräfte
geschossen haben, war in der Stadt ein offenes Geheimnis –
wenn auch niemand gerne darüber sprach.
Der Vorsitzende der
Menschenrechtsgruppe HRFS Ibrahim Mugaitib sagte mir: „In der
saudischen Kultur ist es so, dass jeder Haushalt bewaffnet sein
sollte. Natürlich laufen fünfundneunzig Prozent der Leute
nicht mit Waffen auf der Straße herum.“ Wie andere
berichtete er jedoch, in der Region von Qatif gebe es einen
florierenden Schwarzmarkt von Schusswaffen. Bei Hochzeiten und
anderen Feiern werde vor allem in Awamija immer wieder einmal in die
Luft geschossen. Im Oktober habe es einen viel beachteten Fall in
Qatif gegeben, als drei Männer, bewaffnet mit Kalaschnikows,
einen Lebensmittelladen überfielen. „Wir haben die
Behörden schon lange aufgefordert, diese gefährlichen
Waffen aus dem Verkehr zu ziehen“, so Mugaitib. Aber die
hätten nichts unternommen.
Führende
Geistliche und politische Vertreter der Schiiten forderten die
jungen Demonstranten zur Zurückhaltung auf. Um den
Sicherheitskräften keinen Vorwand zu geben, die religiösen
Rituale während des schiitschen Trauermonats Muharram zu
stören, verlangten vier führende Geistliche den Abbruch
der Demonstrationen. Dennoch gingen die Proteste in Qatif und den
umliegenden Dörfern weiter, allerdings ohne gewaltsame
Auseinandersetzungen.
„ Diese
Entwicklung ist einem deutlichen Generationenkonflikt bei uns
geschuldet“, sagte Hassan. Er selbst ist Mitte dreißig.
„Die 40-, 50- und 60-jährigen haben alles, Ersparnisse,
einen guten Lebensstandard. Aber für einen wie mich bleibt es
ein Traum, ein Grundstück zu kaufen.“
Zusammen mit seiner
Frau lebte Hassan im Erdgeschoss des Wohnhauses seiner Eltern.
Soweit ich das sehen konnte, hatte er alle Annehmlichkeiten des
modernen Lebens: helle Teppiche, neue Möbel, eine HIFI-Anlage,
einen Flachbildfernseher. Er war gerade von einem mehrjährigen
Doktoratsstipendium aus den USA zurückgekommen. Als er mich in
der Stadt abholte, kam er gerade von der Arbeit. In seiner Wohnung
setzte er sich erst einmal aufs Sofa und rauchte seine
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