Im Koenigreich der Traeume
Nebel der Gefühllosigkeit durchdrang, war Angst, registrierte sie entrüstet. Sie straffte die Schultern, drehte sich um und ging ins Zimmer zurück.
Zwei Stunden später betrachtete sich Jenny im Spiegel. Die gnädige Taubheit war seit ihrem Aufenthalt auf dem Balkon für immer von ihr abgefallen, und ohne diesen schützenden Panzer war sie den erschütterndsten Gefühlen ausgesetzt, aber das kreidebleiche Gesicht, das sie aus dem Spiegel ansah, glich einer ausdruckslosen Maske.
»Es wird nicht halb so schrecklich, wie du jetzt denkst, Jenny«, sagte Brenna. Sie bemühte sich nach Kräften, ihre Schwester aufzuheitern, während sie zusammen mit zwei Dienerinnen die Schleppe von Jennys Kleid richtete. »In weniger als einer Stunde ist alles vorbei.«
»Wenn nur die Ehe auch so kurz sein könnte wie die Hochzeitszeremonie«, sagte Jenny kläglich.
»Sir Stefan ist in der Halle, ich habe ihn selbst gesehen. Er wird nicht zulassen, daß der Duke dich beleidigt. Stefan ist ein starker Mann und ehrenwerter Ritter.«
Jenny wirbelte zu ihr herum und hielt die Haarbürste in der Hand. Sie musterte mit einem schwachen, unsicheren Lächeln das Gesicht ihrer Schwester. »Brenna, sprechen wir über den >ehrenwerten Ritter<, der uns damals auf unserem Spaziergang überfallen und verschleppt hat?«
»Aber«, verteidigte sich Brenna, »er hat wenigstens nicht wie sein niederträchtiger Bruder versucht, einen sittenlosen Handel mit mir abzuschließen.«
»Das stimmt«, sagte Jenny - im Moment dachte sie gar nicht an ihren eigenen Kummer. »Ich würde trotzdem nicht darauf zählen, daß er dir heute abend wohlgesinnt ist. Ich kann mir gut vorstellen, daß er gute Lust hat, dir den Hals umzudrehen, weil er inzwischen erfahren haben muß, daß du ihn mit deinem Husten getäuscht hast.«
»Oh, aber das nimmt er mir nicht übel«, sprudelte Brenna hervor. »Er meinte sogar, diese List wäre sehr mutig und tapfer von mir gewesen.« Trübsinnig fügte sie hinzu: »Damals hätte er mir gern den Hals umgedreht, hat er gesagt, aber ich konnte ihm klarmachen, daß ich nicht ihn, sondern seinen gemeinen Bruder hinters Licht geführt habe.«
»Du hast schon mit Sir Stefan gesprochen?« erkundigte sich Jenny verblüfft. Brenna hatte nie auch nur das geringste Interesse an den jungen Burschen gezeigt, die ihr seit drei Jahren den Hof machten. Und jetzt traf sie sich in aller Heimlichkeit mit dem letzten Mann, den ihr Vater als Heiratskandidaten akzeptieren würde.
»Es ist mir gelungen, in der Halle ein paar Worte mit ihm zu wechseln, als ich dort war, um William etwas zu fragen«, gestand Brenna. Ihre Wangen glühten, und mit einemmal war sie sehr damit beschäftigt, den weiten Ärmel ihres roten Samtkleides zurechtzuzupfen. »Jenny«, hauchte sie leise, ohne den Kopf zu heben, »jetzt, da Frieden zwischen den beiden Ländern herrscht, dachte ich, ich könnte dir oft schreiben und meine Nachrichten von einem Boten überbringen lassen. Wenn ich einen Brief für Sir Stefan mitschicke, würdest du dann dafür sorgen, daß er ihn auch bekommt?«
Jenny kam es vor, als stünde die ganze Welt auf dem Kopf. »Wenn du ihm wirklich schreiben willst, dann leite ich den Brief an ihn weiter. Und«, fuhr sie fort und verkniff sich ein Lachen, »ich soll offensichtlich auch Sir Stefans Antwortschreiben meinen Briefen an dich beilegen, oder?«
Brenna richtete die strahlenden Augen auf Jenny. »Sir Stefan selbst hat das vorgeschlagen.«
»Ich ...« begann Jenny, brach jedoch ab, als die Tür zu ihrem Zimmer aufschwang und eine kleine, ältere Frau hereinhuschte. Tante Elinor trug ein altmodisches, aber hübsches taubengraues Satinkleid mit Kaninchenfellbesatz, einer hauchdünnen weißen Stola, die sie um den Hals geschlungen und bis zum Kinn hochgezogen hatte, und einem silbrigen Schleier, der über ihre Schultern floß.
Die Tante blieb stehen und sah verwirrt von einem Mädchen zum anderen. »Ich weiß, daß du die kleine Brenna bist«, sagte sie und strahlte erst Brenna, dann Jenny an, »aber kann es wirklich wahr sein, daß dieses zauberhafte Wesen meine unscheinbare kleine Jenny ist?«
Tante Elinor betrachtete die Braut in dem cremeweißen Samtkleid mit hoher Taille und weiten, mit Perlen, funkelnden Rubinen und blitzenden Diamanten bestickten, weiten Ärmeln voller Bewunderung. Eine prächtige, mit Samt eingefaßte Satinschleppe - auch großzügig mit Perlen besetzt - war mit riesigen goldenen Broschen, in die Perlen, Rubine und Diamanten
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