Im Koma
ansatzweise ausmalen können, wie weit Janine gehen würde, um sich an ihr zu rächen.
Seltsamerweise war sie nicht wütend auf Janine. Ihre Freundin hatte lediglich den gleichen Fehler gemacht wie sie selbst: Sie war auf Warren hereingefallen. Es reute sie weiß Gott sehr.
Und jeder, der für seine Sünden damit büßte, Tag für Tag und Woche für Woche Middlemarch vorzulesen, hatte nicht nur Mitgefühl, sondern eine zweite Chance verdient.
Wirklich schade, dass es nicht mehr dazu kommen sollte, dachte Casey, und ihre Gedanken schweiften weiter zu Gail. Gail, die Einzige, die immer da gewesen war und sie seit ihrer Kindheit bedingungslos geliebt hatte. Jetzt war sie mit ihrem neuen Freund irgendwo auf Martha's Vineyard und würde bei ihrer Rückkehr erschüttert von Caseys Tod erfahren. Casey würde nie Gelegenheit bekommen, sich bei ihr und Stan für ihren unbegründeten Argwohn zu entschuldigen, was ihn betraf.
Tut mir leid, Gail, sagte sie jetzt.
Es tut mir ja so leid, schluchzte sie lautlos und versuchte, zwei Tage in die Zukunft zu denken und sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn ihr jemand ein Kissen auf Mund und Nase drückte, bis sie aufhörte zu atmen. Würde sie nach Luft schnappen und um Atem ringen? Würde es lange dauern, bis sie tot war, oder barmherzig schnell gehen? Würde sie auf der anderen Seite von einem Engel empfangen werden? Wie würde der Tod sein?
Konnte es noch schlimmer kommen, als es jetzt war?
Aber trotz des Grauens der vergangenen Monate, trotz des Verrats, der Enthüllungen und Lügen, trotz des Verlusts von allem, was sie zu dem Menschen machte, der sie war, spürte Casey, dass sie nicht bereit war zu sterben.
Jedenfalls nicht, ohne sich zu wehren.
Klar, das würde bestimmt ein erbitterter Widerstand werden, dachte sie im nächsten Augenblick unter einer neuen Woge von Schwindel, Wirkung der starken Medikamente in ihrem Kreislauf. Es war kein fairer Kampf.
»Welchen Sinn hat es zu kämpfen, wenn man fair kämpft?«, hörte sie ihren Vater fragen, und sein dröhnendes Lachen erfüllte den Raum, als er ans Fenster trat und in den Garten blickte.
»Hi, Daddy«, sagte Casey und richtete sich im Bett auf.
»Was machst du noch immer im Bett?« Er drehte sich auf den Absätzen um und sah Casey missbilligend an.
»Ich fühle mich nicht besonders.«
»Unsinn. Du tust dir bloß selber leid. Der Wille kann Berge versetzen, Casey. Immer einen Fuß vor den anderen und sehen, wohin es dich führt.«
»Aber ich kann nichts sehen.«
»Dann mach die Augen auf«, erwiderte ihr Vater schlicht, bevor er in der Nacht verschwand. Casey machte die Augen auf.
Das Erste, was sie sah, war das Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel, an dem ihr Vater gestanden hatte.
Sie blinzelte einmal, ein zweites und ein drittes Mal.
Das Licht wurde jedes Mal heller.
Okay, keine überzogenen Erwartungen, mahnte sie sich. Du träumst offensichtlich immer noch.
Aber es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Du hast Halluzinationen.
Aber sie fühlten sich nicht an wie ihre vorherigen Halluzinationen.
Das sind die Medikamente, die deinem Verstand Streiche spielen. Dir ist schwummrig. Und schwindelig.
Aber nicht so schwindelig und nicht so schwummrig. Ich kann sehen, dachte sie und blinzelte erneut. Ein machtvolles Blinzeln.
Sei nicht albern, schimpfte sie mit sich. Du regst dich wegen nichts auf. Es ist mitten in der Nacht und stockfinster. Du bildest dir bloß ein, die Rundung des Mondes in dem großen
Erkerfenster zu sehen. Genauso wenig, wie du die lilafarbenen Vorhänge und die geblümten Sessel erkennen kannst. Auch den gestreiften Sessel neben dem großen Flachbildfernseher an der gegenüberliegenden Wand, flankiert von Gemälden von Orchideen und Narzissen, kannst du eigentlich nicht sehen. Ebenso wenig den Kamin und das Bett, in dem du liegst, die malvenfarbene Decke an deinen Füßen und den Umriss deiner darunter wackelnden Zehen.
Das kann nicht sein. Es ist unmöglich.
Casey ließ ihren Blick hektisch hin und her schießen, hoch und runter, vor und zurück. Ich kann sehen, begriff sie, und Euphorie erfasste ihren gesamten Körper wie ein Buschfeuer einen ausgetrockneten Wald.
Keine übertriebenen Hoffnungen. Das ist dir schon mal passiert. Es sind die Medikamente. Du wachst bestimmt jeden Moment auf.
»Entspann dich, Casey«, hörte sie Warren sagen. »Bald ist alles vorbei.«
Nein. Nicht jetzt. Nicht, wo ich so nah dran bin. Sie lag in ihrem Bett und spürte, wie
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