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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
Reichsdeutschen, einigen Schweizer Sympathisanten und
den aus dem Reich angereisten Journalisten mit stehend entbotenem
Hitlergruß geehrt worden, dem »Kampfblatt der
nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands«
abgekupfert worden. Der V.B. zeigte sich nicht nur während der
vier historisch zu nennenden Verhandlungstage, sondern auch im Internet
präsent; die übers Netz verbreiteten Zitate aus dem Brief des
strengen Vaters an seinen verlorenen Sohn waren gleichfalls dem
Kampfblatt entnommen, denn des Rabbis Brief - »Ich erwarte nichts
mehr von Dir. Du schreibst nicht. Nun brauchst Du auch nicht mehr zu
schreiben...« - wurde vor Gericht von der Anklage als Zeugnis der
Herzlosigkeit des Angeklagten zitiert; ihm, dem Kettenraucher, wird
während Verhandlungspausen die eine, die andere Zigarette erlaubt
worden sein.Während der UBootoffizier Marinesko entweder auf See
war oder im Schwarzmeerhafen Sewastopol Landgang hatte und zu ahnen
ist, daß er deshalb drei Tage lang sturzbetrunken gewesen sein
wird, gewann der in Hamburg auf Kiel gelegte Neubau Gestalt -
Niethämmer gaben Tag und Nacht den Ton an - und saß oder
stand der Angeklagte David Frankfurter zwischen den beiden
Kantonspolizisten. Beflissen war er geständig. So nahm er dem
Prozeß die Spannung. Er hörte sitzend zu, sagte stehend: Ich
beschloß, kaufte, übte, fuhr, wartete, fand, trat ein,
saß, schoß fünfmal. Er sprach seine
Eingeständnisse geradeheraus und nur manchmal stockend. Das Urteil
nahm er hin, doch im Internet hieß es: »Jämmerlich
weinend.«
    Da im Kanton Graubünden die Todesstrafe nicht
zugelassen war, forderte Professor Grimm unter Bedauern die
Verhängung der Höchststrafe: Lebenslänglich. Bis zur
Urteilsverkündung
- achtzehn Jahre Zuchthaus, danach Landesverweis - las sich das alles
online extrem parteiisch zugunsten des Blutzeugen, dann jedoch spaltete
sich mein Webmaster von der Kameradschaft Schwerin. Oder hatte er
plötzlich Gesellschaft bekommen? Drängte sich wiederum jener
Quengler und Besserwisser auf, der schon einmal den Chatroom besetzt
hatte? Jedenfalls begann ein streitbares Rollenspiel.
    Der fortan immer wieder auflebende Disput wurde per
Vornamen geführt, indem ein Wilhelm dem ermordeten
Landesgruppenleiter Stimme gab und sich ein David als verhinderter
Selbstmörder in Szene setzte.
    Es war, als spielte sich dieser Schlagabtausch im
Jenseits ab. Dabei ging es irdisch gründlich zu. Beim Stelldichein
von Mörder und Ermordetem wurden immer wieder die Tat und deren
Motiv durchgekaut. Während der eine sich propagandistisch
verbreitete, etwa kundtat, daß es im Reich zum Zeitpunkt des
Prozesses 800 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr gegeben habe, und
darüber in Begeisterung geriet: »Das alles ist einzig dem
Führer zu verdanken«, zählte der andere klagend auf,
wie viele jüdische Ärzte und Patienten aus
Krankenhäusern und Kurorten vertrieben worden seien und daß
das Naziregime schon am 1. April dreiunddreißig zum Judenboykott
aufgerufen habe, woraufhin die Schaufenster jüdischer
Geschäfte mit der Hetzparole »Juda verrecke!«
gekennzeichnet
    worden seien. So ging es hin und her. Gab Wilhelm,
um seine These von der notwendigen Reinerhaltung der arischen Rasse und
des deutschen Blutes zu stützen, Führerzitate aus »Mein
Kampf« ins Netz, antwortete David mit Auszügen aus
»Die Moorsoldaten«, einem Bericht, den ein ehemaliger
KZ-Häftling im Verlag der Emigranten veröffentlicht hatte.
    Bitterernst verlief der Streit, verbissen. Doch
plötzlich lockerte sich der Ton. Im Chatroom wurde geplaudert.
Fragte Wilhelm: »Sag mal, warum hast du fünfmal auf mich
geschossen?«, gab David zurück: »Sorry, der erste
Schuß war ein Versager. Nur vier Löcher gab's.« Darauf
Wilhelm: »Stimmt. Wer aber hat dir den Revolver geliefert?«
    David: »Gekauft hab ich den Ballermann. Und
zwar für zehn Schweizer Fränkli nur.« - »Ziemlich
billig für ne Waffe, für die man bestimmt fünfzig
Franken hätte hinblättern müssen.« -
»Verstehe. Du willst damit sagen, jemand hat mir das Ding
geschenkt. Oder?« - »Bin sogar sicher, daß du im
Auftrag geschossen hast.« - »Na klar! Auf Geheiß des
Weltjudentums.«
    So lief ihr Internet-Dialog auch während der
nächsten Tage. Kaum hatten sie sich gegenseitig fertiggemacht,
ging es spaßig zu, als würden Freunde sich einen Jux machen.
Bevor sie den Chatroom verließen, sagten sie:
»Tschüß, du geklöntes Nazischwein!« und
»Mach's gut, Itzig!« Sobald aber

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