Im Krebsgang
den Alten
kaum satt. Er läßt nicht locker: »Zu meiner Zeit hatte
die etwa zehnjährige Tulla Pokriefke ein Punktkommastrichgesicht;
wie aber sah sie als junge Frau und Tischlergesellin aus, etwa ab dem
Jahr fünfzig, als sie dreiundzwanzig gewesen ist? Trug sie
Schminke auf? Sah man sie mit Kopftuch oder muttihaft unterm Topfhut?
Fielen ihre Haare glatt, oder ließ sie sich Dauerwellen legen?
Lief sie am Wochenende womöglich mit Lockenwicklern herum?«
Ich weiß nicht, ob ihn meine Auskünfte
ruhigstellen können; mein Bild von Mutter, als sie noch jung war,
ist gestochen scharf und getrübt zugleich. Kenne sie nur
weißhaarig.
Von Anbeginn war sie weißhaarig. Nicht silbrig weiß.
Einfach nur weiß. Wer Mutter danach fragte, bekam zu hören:
»Das is bai dejeburt von maim Sohn passiert. Ond zwar auffem
Torpedoboot, was ons jerettet hat...« Und wer bereit war, sich
mehr anzuhören, erfuhr, sie sei ab dann und so auch in Kolberg,
als die Überlebenden, Mutter mit Säugling, das Torpedoboot
Löwe verließen, schlohweiß gewesen. Damals habe sie
die Haare halblang getragen. Aber früher, als sie noch nicht
»wie auf Kommando von heechste Stelle« weiß geworden
war, sei ihr Haar von Natur aus annähernd blond, bißchen
rötlich bis auf die Schultern gefallen.
Auf weitere Fragen - er läßt nicht nach - versicherte ich
meinem Arbeitgeber, daß es von Mutter nur wenige Fotos aus den
fünfziger Jahren gibt. Auf einem sieht man, wie sie ihr
weißes Haar kurzgeschnitten, auf Streichholzlänge getragen
hat. Knisterte, wenn ich drüber strich, was sie mir manchmal
erlaubte. Und so läuft sie noch heute als alte Frau rum. Grad mal
siebzehn war sie, als sie auf einen Schlag weiß wurde. »Ach
was! Niemals hat Mutter ihr Haar gefärbt oder färben lassen.
Keiner ihrer Genossen hat sie jemals blauschwarz oder tizianrot
erlebt.«
»Und sonst? Was gibt es sonst an Erinnerung? Zum Beispiel
Männer? Gab es da welche?« Gemeint sind solche, die
über Nacht blieben. Denn Tulla Pokriefke ist als Halbwüchsige
nach Männern verrückt gewesen. Ob in Brösens Badeanstalt
oder als Straßenbahnschaffnerin, die zwischen Danzig, Langfuhr
und Oliva Dienst schob, immer waren Jungs um sie rum, aber auch
richtige Männer, Fronturlauber zum Beispiel. »Hat sich ihr
Männertick später, als sie eine weißhaarige Frau war,
gegeben?«
Was der Alte sich denkt. Glaubt womöglich, Mutter habe, nur weil
der Schock ihr Haar gebleicht hatte, wie eine Nonne gelebt. Männer
gab's mehr als genug. Aber die blieben nicht lange. Einer war
Maurerpolier und ganz nett. Der brachte mit, was es nur knapp auf
Marken gab: Leberwurst zum Beispiel. Da war ich schon zehn, als er bei
uns im Hinterhof, Lehmstraße 7, in der Küche saß und
mit den Hosenträgern geschnalzt hat. Hieß Jochen und wollte
mich unbedingt auf seinen Knien reiten lassen. Mutter nannte ihn
»Jochen zwo«, weil sie als Halbwüchsige einen
Oberschüler gekannt hatte, der Joachim hieß, aber Jochen
gerufen wurde. »Der wollt aber nuscht von miä. Nich mal
anjefaßt hat er...«
Irgendwann wird Mutter Jochen zwei rausgeschmissen haben, weiß
nicht, warum. Und als ich dreizehn war etwa, kam nach
Dienstschluß und manchmal auch sonntags einer von der
Volkspolizei. War Unterleutnant und Sachse, aus Pirna glaube ich. Der
brachte Westzahnpasta, Colgate, mit und sonst noch beschlagnahmtes
Zeug. Hieß übrigens auch Jochen, weshalb Mutter gesagt hat:
»Morjen kommt Nummer drai. Bist bißchen nett zu ihm, wenner
kommt...« Jochen drei wurde vor die Tür gesetzt, weil er
sie, wie Mutter sagte, »auf Daibel komm raus ehelichen
jewollt« hat.
Sie war nicht für Heirat. »Du raichst miä grade«,
hat sie gesagt, als ich, mit etwa fünfzehn, die Nase voll hatte
von allem. Nicht von der Schule. Da war ich, außer in Russisch,
ganz gut. Aber vom FDJ-Gehampel, den Ernteeinsätzen,
Aktionswochen, dem ewigen Bauaufgesinge, auch von Mutter hatte ich
genug. Konnte das nicht mehr mitanhören, wenn sie mir, meistens
sonntags, ihre Gastloff-Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln
auftischte: »Kam alles ins Rutschen. Kann man nich
vergässen, sowas.
Das heert nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als
Schluß war, ain ainziger Schrei ieberm Wasser losjing. Ond all
die Kinderchen zwischen die Eisschollen...«
Manchmal hat Mutter, wenn sie nach dem Sonntagsessen mit ihrem Pott
Kaffee am Küchentisch saß, nur »War aijentlich ain
scheenes Schiff« gesagt, danach kein Wort mehr.
Aber ihr Binnichtzuhauseblick sagte
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