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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Überlebender, Heinz Schön ein wenig nahe
fühle, dann nur, weil ich von seiner Besessenheit profitieren
kann. Alles hat er aufgelistet: die Anzahl der Kabinen, die Unmengen
Reiseproviant, die Größe des Sonnendecks in Quadratmetern,
die Zahl der kompletten und der am Ende fehlenden Rettungsboote und
schließlich - von Buchauflage zu Buchauflage steigend - die Zahl
der Toten und Überlebenden. Lange blieb sein Sammlerfleiß im
Schatten, doch nun wird Heinz Schön, der ein Jahr älter als
Mutter ist und den ich mir, zu meiner Entlastung, als Wunschvater
vorstellen könnte, immer häufiger im Internet zitiert.
Dort ging es neulich um einen Schmachtfetzen kolossaler Spielart, den
in Hollywood frisch abgedrehten Titanic-Untergang, der bald darauf als
größte Schiffskatastrophe aller Zeiten vermarktet wurde.
Diesem Unsinn standen Heinz Schöns nüchtern zitierte Zahlen
entgegen. Natürlich mit Echo, denn seitdem die Gustloff im
Cyberspace schwimmt und virtuelle Wellen macht, bleibt die rechte Szene
mit Haßseiten online. Dort ist die Jagd auf Juden eröffnet.
Als wäre der Mord von Davos gestern geschehen, fordern
Rechtsradikale auf ihrer Website »Rache für Wilhelm
Gustloff!« Die schärfsten Töne -
»Zündelsite« - kommen aus Amerika und Kanada. Aber
auch im deutschsprachigen Internet mehren sich Homepages, die im World
Wide Web unter Adressen wie »Nationaler Widerstand« und
»Thulenet« ihrem Haß Auslauf geben.
Mit als erste war, wenn auch weniger radikal,
»www.blutzeuge.de« online. Sie hat mit der Entdeckung eines
Schiffes, das nicht nur gesunken, sondern, weil verdrängt, Legende
ist, Zulauf von tausend und immer mehr Usern bekommen. So hat mein
Einzelkämpfer, der sich inzwischen einen als »David«
firmierenden Gegner und Sportsfreund zugelegt hatte, mit kindlich
anmutendem Stolz aller im Netz verbundenen Welt die Rettung englischer
Schiffbrüchiger durch die Gustloff kundgetan. Als seien bestimmte
Zeitungsartikel gestern noch druckfrisch gewesen, zitierte er lobende
Worte der britischen Presse für die deutsche Rettungstat wie eine
Neuigkeit. Dann wollte er von seinem Gegenspieler wissen, ob wohl der
in Chur einsitzende Mordjude Frankfurter von der heldenhaften
Rettungstat gehört habe. Und David gab zurück: »Im
Sennhof-Gefängnis hockte man tagtäglich vor klappernden
Webstühlen und fand wenig Zeit für
Zeitungslektüre.«
Eigentlich hätte jetzt für David wissenswert sein
müssen, ob ein in baltischen Küstengewässern kreuzender
U-Bootoffizier namens Marinesko Kenntnis gehabt habe von der Rettung
der Pegaway-Schiffbrüchigen durch Seeleute der Gustloff und ob ihm
so zum ersten Mal der Name des ihm vorbestimmten Zielobjektes
buchstabierbar geworden sei.
Aber diese Frage kam nicht. Vielmehr feierte der Webmaster Wilhelm den
wenig später datierten Einsatz des KdF-Schiffes vor der englischen
Küste als »schwimmendes Wahllokal« wiederum mit solch
gegenwärtiger Begeisterung, als wäre dieser Propagandatrick
erst neuerdings und nicht vor knapp sechzig Jahren wirkungsvoll gewesen.
Es ging um die Volksabstimmung nach dem bereits vollzogenen
Anschluß Österreichs ans nunmehr Großdeutsche Reich.
Den in England lebenden Deutschen und Österreichern sollte
Gelegenheit zur Stimmabgabe geboten werden. Über die
Landebrücken von Tilbury gingen die Wähler an Bord, und
außerhalb der Dreimeilenzone wurde gewählt. Dazu fiel dem
Duett Wilhelm und David ein Streitgespräch ein. Wie beim
Tischtennis: spielerisch ging es um den Verlauf der Wahl. Wilhelm
bestand darauf, daß der geheime Vorgang durch aufgestellte
Wahlkabinen gesichert gewesen sei; David spottete, weil man unter den
annähernd zweitausend Wahlberechtigten nur ganze vier gezählt
habe, die gegen den Anschluß gestimmt hätten: »Das
kennt man doch, diese Neunundneunzigkommaneunergebnisse!« Indem
er den »Daily Telegraph« vom 12. April achtunddreißig
zitierte, hielt Wilhelm dagegen: »Kein Zwang wurde ausgeübt!
Und das, mein lieber David, haben Engländer geschrieben, die uns
Deutsche sonst runtermachen, wo sie nur können...«
Mich amüsierte das absurde Chatroom-Geplänkel. Dann aber roch
mir ein Einwurf Wilhelms ziemlich verdächtig. Das kannte ich doch!
Er hatte sich, um Davids Spott zu entkräften, zu der Behauptung
verstiegen: »Deine so hoch gepriesenen demokratischen Wahlen
werden eindeutig von den Interessen der Plutokraten, vom Weltjudentum
bestimmt. Alles nur Schwindel!«
Ähnliches hatte mir kürzlich mein Sohn geboten. Ich sah

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