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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Angestellte aus dem
Ruhrgebiet und Berlin, aus Hannover und Bremen an Bord. Außerdem
kleine Gruppen von Auslandsdeutschen. Das Schiff lief in den Byfjord
ein und erlaubte den fotografierenden Urlaubern einen Blick auf die
Stadt Bergen. Auch stand der Hardangerfjord auf dem Programm,
schließlich der Sognefjord, in dem besonders viele
Erinnerungsfotos geschossen wurden. Bis in den Juli konnte als Zugabe
die Mitternachtssonne bestaunt und als Erlebnis gespeichert werden.
    Nunmehr kostete die Fünftagereise, leicht
erhöht, fünfundvierzig Reichsmark. Und dann begann immer noch
nicht der Krieg, vielmehr diente die Gustloff der Leibeserziehung. Zwei
Wochen lang fand in Stockholm ein friedliches Turnerfest, die
»Lingiade«, statt, benannt nach Per Henrik Ling, einem,
nehme ich an, schwedischen Turnvater Jahn. Das Urlauberschiff war
Wohnschiff für über tausend uniform gekleidete Turner und
Turnerinnen, unter ihnen Maiden vom Arbeitsdienst, die
Nationalmannschaft der Reckturner, aber auch alte Herren, die immer
noch am Barren turnten, sowie Gymnastikgruppen der Gemeinschaft
»Glaube und Schönheit« und viele auf stadionweites
Massenturnen gedrillte Kinder.
Kapitän Bertram ließ nicht im Hafen anlegen, aber ankerte in Sichtweite der Stadt.
Turner und Turnerinnen wurden von Motorrettungsbooten in geregeltem
Pendelverkehr befördert. So blieben die Leibeserzogenen unter
Aufsicht. Zu Vorfällen kam es nicht.
Meinen Unterlagen ist zu entnehmen, daß dieser Sondereinsatz ein
Erfolg gewesen ist, der deutsch-schwedischen Freundschaft dienlich.
Allen Turnübungsleitern ist eine extra von Schwedens König
gestiftete Erinnerungsplakette überreicht worden. Am 6. August
1939 lief die Wilhelm Gustloff im Hamburger Hafen ein. Sofort wurde das
KdF-Reiseprogramm wieder aufgenommen.
Doch dann begann der Krieg wirklich. Das heißt, während das
Schiff zum letzten Mal in Friedenszeiten Kurs auf Norwegens Küste
hielt, wurde dem Kapitän im Verlauf der Nacht vom 24. zum 25.
August ein Funkspruch überreicht, dessen entschlüsselter Text
ihn aufforderte, einen in der Kapitänskajüte lagernden und
versiegelten Brief zu öffnen, worauf Kapitän Bertram laut
Order »QWA 7« den Befehl gab, die Urlaubsreise abzubrechen
und - ohne die Passagiere durch Erklärungen zu beunruhigen - Kurs
auf den Heimathafen zu nehmen. Vier Tage nach dem Einlaufen fing der
Zweite Weltkrieg an.
Vorbei war es mit »Kraft durch Freude«. Vorbei mit
Seeurlaubsreisen. Vorbei mit Erinnerungsfotos und Plaudereien auf dem
Sonnendeck. Vorbei mit lustig und vorbei mit der klassenlos gemischten
Urlaubsgesellschaft. Die der Deutschen Arbeitsfront angegliederte
Organisation spezialisierte sich auf die unterhaltsame Betreuung aller
Wehrmachtseinheiten und der vorerst nur langsam steigenden Zahl von
Verwundeten. Aus KdF-Theatern entstanden Fronttheater. Die Schiffe der
KdF-Flotte kamen unter das Kommando der Kriegsmarine, so auch die
Wilhelm Gustloff, die zum Lazarettschiff mit fünfhundert Betten
umgerüstet wurde. Für einen Teil der abgemusterten
Friedensbesatzung kam Sanitätspersonal an Bord. Ein umlaufender
grüner Streifen und rote Kreuze auf beiden Seiten des Schornsteins
gaben dem Schiff ein neues Aussehen.
So, nach internationalem Abkommen kenntlich gemacht, nahm die Gustloff am 27.
September Kurs Richtung Ostsee, passierte die Inseln Seeland und
Bornholm und legte nach störungsfreier Fahrt gegenüber der
noch kurz zuvor umkämpften Westerplatte in Danzig-Neufahrwasser
an. Sogleich wurden mehrere hundert polnische Verwundete
übernommen, zudem zehn verletzte Besatzungsmitglieder des
deutschen Minensuchbootes M 85, das in der Danziger Bucht auf eine
polnische Mine gelaufen und gesunken war; mehr fiel auf eigener Seite
vorerst nicht an.
Und wie erlebte der auf neutralem Schweizer Boden einsitzende
Häftling David der durch gezielte Schüsse einem Schiff, das
nun Lazarettschiff war, unfreiwillig zum Namen verholfen hatte, den
Beginn des Krieges? Es ist anzunehmen, daß zum Tagesablauf des 1.
September im Sennhof-Gefängnis keine besonderen Ereignisse notiert
worden sind; doch soll fortan dem Verhalten der Häftlinge
anzumerken gewesen sein, wie jeweils die militärische Lage war,
welcher Makel dem Juden Frankfurter anhing, welches Ansehen er
zeitweilig genoß. In etwa wird der Anteil von Antisemiten
innerhalb des Gefängnisses dem entsprochen haben, was sich
außerhalb der Mauern erkennen ließ: ein, die gesamte
Eidgenossenschaft betreffend, ausgewogenes

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