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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Verhältnis.
Und was tat Kapitän Marinesko, als zuerst deutsche, dann aber, auf
Grundlage des HitlerStalin-Paktes, auch russische Soldaten in Polen
einmarschierten? Er war noch immer Kommandant des
Zweihundertfünfzigtonnenbootes M 96 und übte, da kein
Kriegseinsatz angeordnet wurde, mit seinen achtzehn
Besatzungsmitgliedern das Schnelltauchen in der östlichen Ostsee.
Unverändert durstig blieb er der Landgangstrinker, der er immer
gewesen war, hatte einige Weibergeschichten, doch bis dahin kein
Disziplinarverfahren am Hals und mag von einem größeren, mit
mehr als nur zwei Torpedorohren ausgerüsteten U-Boot geträumt
haben.
Hinterher, heißt es, ist man klüger. Inzwischen weiß
ich, daß mein Sohn lockeren Umgang mit Skins hatte. In Mölln
gab es einige von dieser Sorte. Wegen des örtlichen Vorfalls mit
Todesfolgen standen sie wahrscheinlich unter Beobachtung und wurden
anderenorts, in Wismar oder bei größeren Treffen im
Brandenburgischen laut. In Mölln wird Konny Distanz gewahrt haben,
doch in Schwerin, wo er nicht nur die Wochenenden, sondern auch einen
Teil seiner Schulferien bei seiner Großmutter verbrachte, hat er
vor einer größeren Horde Glatzen, zu der Gruppen aus dem
mecklenburgischen Umland zählten, einen Vortrag gehalten, der ihm
offenbar zu langatmig geriet, denn er mußte ihn zwischendurch
kürzen, obgleich seine schriftlich vorbereiteten Ausführungen
dem Blutzeugen und großen Sohn der Stadt gewidmet waren.
Immerhin mag es Konny zuvor gelungen sein, einige der dort
ansässigen und - wie üblich - auf Haßparolen und
Ausländerhatz fixierten Jungnazis für sein Thema zu gewinnen,
denn kurze Zeit lang hat sich diese lokale Zusammenrottung
»Kameradschaft Wilhelm Gustloff« genannt. Wie später
zu erfahren war, fand die Veranstaltung im Hinterzimmer einer
Gaststätte in der Schweriner Straße statt. Mitglieder einer
rechtsradikalen Partei sowie interessierte Bürger der
Mittelschicht zählten zu den etwa fünfzig Zuhörern.
Mutter ist nicht dabeigewesen.
Ich versuche mir meinen Sohn vorzustellen, wie er sich, dünn und
hochaufgeschossen, mit Brille und lockenköpfig in seinem
Norwegerpullover zwischen den Kahlköpfen bewegt. Er, der
Safttrinker, umgeben von Fleischbergen, die mit Bierflaschen bewaffnet
sind. Er, mit seiner hellen, stets verrutschenden Jungenstimme,
übertönt von Großsprechern. Er, der Einzelgänger,
aufgehoben im schweißgesättigten Mief.
Nein, er hat sich nicht angepaßt, blieb ein Fremdkörper
inmitten der, üblicherweise, alles Fremde abstoßenden Szene.
Haß auf Türken, die Freizeitbeschäftigung
Negerklatschen und die pauschale Beschimpfung von Kanaken waren ihm
nicht abzufordern. So enthielt sein Vortrag keinen Aufruf zur Gewalt.
Bei der Schilderung des Mordes in Davos, den er, nüchtern wie ein
Kriminalbeamter auf Motivsuche, bis in alle Einzelheiten zerlegt hat,
sprach er zwar wie auf seiner Website von mutmaßlichen
Hintermännern des Mörders, vom »Weltjudentum« und
von der »jüdisch versippten Plutokratie«, aber
Beschimpfungen wie »Schweinejuden« oder der Ruf »Juda
verrecke!« standen nicht in seinem Redemanuskript. Selbst die
Forderung nach der Wiederaufstellung eines Gedenksteins am Südufer
des Schweriner Sees, »genau dort, wo seit 1937 der hochragende
Granit zu Ehren des Blutzeugen gestanden hat«, war gesittet in
Form eines Antrages gestellt, der die üblichen demokratischen
Gepflogenheiten bemühte. Doch als er den versammelten
Zuhörern vorschlug, daraus ein an den mecklenburgischen Landtag
gerichtetes Bürgerbegehren zu machen, soll ihm Hohngelächter
geantwortet haben. Schade, daß Mutter nicht dabeigewesen ist.
Konny hat das weggesteckt und sogleich begonnen, vom Schiff ab
Stapellauf zu berichten. Dabei sind ihm Längen unterlaufen, als er
über Sinn und Zweck der Organisation »Kraft durch
Freude« referierte. Hingegen fand sein Bericht über den
Einsatz des umgerüsteten Lazarettschiffes während der
Besetzung Norwegens und Dänemarks durch Einheiten der Wehrmacht
und Kriegsmarine einige Aufmerksamkeit im Kreis der Biertrinker, zumal
etliche »Helden von Narvik« zu den Verwundeten an Bord des
Schiffes gehörten. Doch weil es nach dem siegreichen
Frankreichfeldzug nicht zum »Unternehmen Seelöwe«, das
heißt zur Besetzung Englands und einem Einsatz der Gustloff als
Truppentransporter kam und bald nur noch von der langweiligen Liegezeit
des Schiffes in Gotenhafen zu berichten war, übertrug sich diese
Langeweile auf das Publikum.
Mein Sohn

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