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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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meiner Ehemaligen in einem Hotel mit Seeblick
einquartiert. Wiederholt klingelte ich bei Gabi, wollte mit meinem Sohn
sprechen. Am Sonntag abend kam er endlich, war von Schwerin mit dem Bus
angereist. Jedenfalls trug er keine Springerstiefel, sondern ganz
normale Boots zu Jeans und einen farbigen Norwegerpullover. Sah
eigentlich nett aus und hatte sein naturgelocktes Haar nicht abrasiert.
Mit Brille wirkte er neunmalklug. Mich übersah er, sprach
überhaupt kaum, nur einige Worte mit seiner Mutter. Es gab Salat
und belegte Brote, dazu Apfelsaft.
Doch bevor Konny nach dem gemeinsamen Abendessen in seinem Zimmer
verschwinden konnte, erwischte ich ihn auf dem Flur. Betont
beiläufig stellte ich Fragen: Wie es in der Schule gehe, ob er
Freunde, womöglich eine Freundin habe, welchen Sport er treibe,
was ihm das gewiß teure Geburtstagsgeschenk der Großmutter,
dessen Preis ich andeutungsweise wisse, bedeute, ob denn ein Computer
und überhaupt die Möglichkeit moderner Kommunikation, das
Internet zum Beispiel, neue Erkenntnisse zulasse, was ihm, falls er im
Internet surfe, schwerpunktmäßig wichtig sei.
Er schien mir zuzuhören, während ich meinen Sermon abspulte.
Auch glaubte ich, seinem auffallend kleinen Mund ein Lächeln
ablesen zu können. Er lächelte! Dann nahm er die Brille ab,
setzte sie wieder auf und sah, wie zuvor am Abendbrottisch, durch mich
durch. Seine Antwort kam leise: »Seit wann interessiert dich, was
ich tue?« Nach einer Pause - schon stand mein Sohn in der
Tür seines Zimmers - bekam ich einen Nachschlag geliefert:
»Ich betreibe historische Studien. Reicht die Auskunft?«
Zu war die Tür. Hätte ihm nachrufen sollen: Ich auch, Konny,
ich auch! Lauter alte Geschichten. Es geht um ein Schiff. Im Mai
neununddreißig hat es gut tausend Freiwillige der siegreichen
»Legion Condor« nach Hause gebracht. Aber wen kümmert
das heute noch? Etwa dich, Konny?
4
    Bei einem der von ihm eingefädelten Treffen,
die er Arbeitsgespräche nennt, bekam ich zu hören: Eigentlich
müsse jeder Handlungsstrang, der mit der Stadt Danzig und deren
Umgebung verknüpft oder locker verbunden sei, seine Sache sein. Er
und kein anderer hätte deshalb von allem, was das Schiff angehe,
die Ursache der Namensgebung und welchen Zweck es nach Kriegsbeginn
erfüllt habe, berichten und also vom Ende auf Höhe der
Stolpebank kurz- oder langgefaßt erzählen müssen.
Gleich nach Erscheinen des Wälzers »Hundejahre« sei
ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er - wer sonst? - hätte sie
abtragen müssen, Schicht für Schicht. Denn an Hinweisen auf
das Schicksal der Pokriefkes, Tulla voran, habe es nicht gefehlt.
Zumindest sei zu erahnen gewesen, daß der Rest der Familie -
Tullas beide ältere Brüder waren gefallen - zu den tausend
und nochmal tausend Flüchtlingen gehörte, die zuallerletzt
auf der überladenen Gustloff Platz gefunden hätten, mitsamt
der schwangeren Tulla.
    Leider, sagte er, sei ihm dergleichen nicht von der
Hand gegangen. Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein
Versagen. Doch wolle er sich nicht rausreden, nur zugeben, daß er
gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit sattgehabt, ihn die
gefräßige, immerfort jetztjetztjetzt sagende Gegenwart
gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier... Nun
sei es zu spät für ihn. Ersatzweise habe er mich zwar nicht
erfunden, aber nach langer Sucherei auf den Listen der
Überlebenden wie eine Fundsache entdeckt. Als Person von eher
dürftigem Profil, sei ich dennoch prädestiniert: geboren,
während das Schiff sank.
    Dann sagte er noch, die Sache mit meinem Sohn tue
ihm leid, doch habe er nicht wissen können, daß sich Tullas
Enkel hinter der ominösen Homepage »www.blutzeuge.de«
versteckt halte, wenngleich es niemanden überraschen dürfe,
daß sich Tulla Pokriefke als Großmutter einen
Nachkömmling dieser Art leiste. Sie sei schon immer fürs
Extreme gewesen und außerdem, wie man sehe, nicht kleinzukriegen.
Doch nun, ermunterte er seine Hilfskraft, sei ich wieder dran,
müsse berichten, wie es mit dem Schiff weitergegangen sei, nachdem
es einen Truppenteil der berüchtigten »Legion Condor«
von einem spanischen Hafen nach Hamburg transportiert habe.
    Kurzgefaßt könnte es jetzt heißen:
Und dann begann der Krieg. Aber das geht noch nicht. Vorher, den langen
schönen Sommer über durfte das KdF-Schiff auf gewohnter Route
ein halbes Dutzend Norwegenreisen hinter sich bringen. Immer noch ohne
Landgang. Überwiegend waren Arbeiter und

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