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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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nicht
an. Genaues weiß keiner. So kennt man nicht die Zahl der
Kinderwagen, die in den Frachträumen verstaut wurden; und zu
schätzen ist nur, daß am Ende an die viereinhalbtausend
Säuglinge, Kinder, Jugendliche an Bord waren.
    Schließlich, als nichts mehr ging, sind doch
noch weitere Verwundete und ein letzter Trupp Marinehelferinnen
eingeschifft worden, junge Mädchen, die, weil keine Kabinen mehr
frei und alle Säle als Matratzenlager belegt waren, im
trockengelegten Schwimmbad einquartiert wurden, also im E-Deck
unterhalb der Wasserlinie.
    Diese Lokalisierung muß hier wiederholt und
betont erwähnt werden, weil sich mein Sohn über alles, was
die Marinehelferinnen und die Todesfalle Schwimmbad betraf, ausschwieg.
Nur als er sich auf seiner Website generell über Vergewaltigungen
verbreitete, schwärmte er regelrecht von »blutjungen Maiden,
deren Unschuld auf dem Schiff vorm Zugriff der russischen Bestie
geschützt werden sollte...«
    Als mir dieser Blödsinn geboten wurde, bin ich
wieder einmal, ohne mich allerdings als Vater kenntlich zu machen,
aktiv geworden. Ließ, als sein Chatroom offen war, meinen Einwurf
los: »Deine hilfsbedürftigen Maiden steckten in Uniformen,
in hübschen sogar.
    Trugen knielang graublaue Röcke und knapp
sitzende Jacken. Leicht schräg saßen Feldmützen mit
Hoheitsadler samt Hakenkreuz auf ihren Frisuren. Die waren alle, ob
noch unschuldig oder nicht, militärisch gedrillt und auf ihren
Führer vereidigt...«
    Doch mein Sohn wollte mit mir nicht kommunizieren.
Allenfalls mit seinem erfundenen Streitpartner, den er wie ein Rassist
aus dem Bilderbuch belehrte: »Als Jude wird es dir ewig
unbegreiflich bleiben, wie sehr mich die Schändung deutscher
Mädchen und Frauen durch Kalmücken, Tataren und sonstige
Mongolen immer noch schmerzt. Aber was wißt ihr Juden schon von
der Reinheit des Blutes!«
    Nein, das konnte ihm nicht Mutter eingetrichtert
haben. Oder doch? Mir hat sie einmal, als ich ihr auf dem Großen
Dreesch meinen ziemlich objektiven Artikel über den Streit ums
Berliner Holocaust-Denkmal auf den Kaffeetisch legte, erzählt,
daß sich auf dem Tischlereihof ihres Onkels jemand, »son
dicker Bengel mit Sommersprossen«, hatte blicken lassen, der den
an der Kette liegenden Hund annähernd ähnlich gezeichnet
haben soll: »Das war ain Itzich, dem immer so komische Sachen
einjefallen sind. Is aber nur ain halber jewesen, wie main Papa
jewußt hat. Hat er noch laut jesagt, bevor er den Itzich, Amsel
hieß der, von onserm Hof jeschmissen hat...«
    Am Vormittag des Dreißigsten gelang es
Mutter, mit ihren Eltern an Bord zu kommen. »Auffen letzten
Dricker sind wir noch rauf...« Dabei ging ein Teil des
Gepäcks verloren. Mittags kam der Befehl für die Gustloff,
Anker zu lichten und abzulegen. Auf dem Kai
    blieben Hunderte zurück.
»Fier Mama und Papa war ech natierlich ne Schande mit maim dicken Bauch. Immer wenn
wer von die andern Flichtlinge nach miäjefragt hat, hädd Mama jesagt: Ihr Verlobter kämpft
anne Front. Oder: Aijentlich sollt es ne Ferntrauung jeben mit ihrem Verlobten, der anne
Westfront kämpft. Wenner nur nech jefallen is. Aber zu miä ham se immer nur von Schande
jered. War ja man gut so, dasse ons auffem Schiff glaich jetrennt ham. Mama ond Papa
mußten janz nach unten im Schiffsbauch rain, wo noch bißchen Platz war. Ech kam nach oben
auf Schwangerenstation...«
Doch soweit war es noch nicht. Wieder einmal muß ich rückwärts krebsen, um
voranzukommen: noch am Vortag - und dann eine lange Nacht über - hatten die Pokriefkes
auf ihren zu vielen Koffern und Bündeln gesessen, inmitten einer Menge Flüchtlinge, von
denen die meisten vom langen Treck erschöpft waren. Von der Kurischen Nehrung, dem
Samland, aus Masuren stammten sie. Ein letzter Schub war aus dem näher gelegenen Elbing
geflüchtet, das von sowjetischen Panzern überrollt worden war, aber noch immer umkämpft
zu sein schien. Auch drängten sich mehr und mehr Frauen und Kinder aus Danzig, Zoppot
und Gotenhafen zwischen Pferde-, Leiter-, Kinderwagen und den vielen Schlitten. Mutter hat
mir von herrenlosen Hunden erzählt, die, weil sie nicht an Bord durften, hungrig die
Kaianlagen unsicher machten. Die ostpreußischen Bauernpferde hatte man ausgeschirrt und in
der Stadt entweder Wehrmachtseinheiten überlassen oder dem Schlachthof zugeführt. Genau
wußte Mutter das nicht. Außerdem taten ihr nur die Hunde leid: »Immerzu jeheult ham die
inne Nacht wie Welfe...«
Als die Pokriefkes die

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