Im Krebsgang
Eisenstraße verließen, weigerten sich die ihnen verwandten
Liebenaus, dem Rest der Hilfsarbeiterfamilie mit Fluchtgepäck zu folgen. Zu sehr hing der
Tischlermeister an seinen Hobelbänken, der Kreis- und Bandsäge, dem Gleichrichter, dem
Vorrat Langholz im Schuppen und an dem Mietshaus Nr. 19, dessen
Eigentümer er war. Seinem Sohn Harry, den Mutter zeitweilig als
meinen möglichen Vater ins Spiel gebracht
hat, war bereits im Herbst des Vorjahres der Einberufungsbefehl
zugestellt worden. Irgendwo, an einer der vielen rückläufigen
Fronten wird er Funker oder Panzergrenadier
gewesen sein.
Nach dem Krieg erfuhr ich, daß die Polen meinen womöglichen Großvater und dessen
Frau, wie alle zurückgebliebenen Deutschen, nach Kriegsende ausgewiesen hatten. Es hieß,
beide seien im Westen, wahrscheinlich in Lüneburg, bald und kurz nacheinander gestorben, er
wahrscheinlich aus Kummer um seine verlorene Tischlerei und die vielen im Keller des
Mietshauses lagernden Fenster- und Türbeschläge. Der Hofhund, in dessen Hütte Mutter als
Kind eine Woche lang gewohnt haben will, lebte schon lange nicht mehr; vor Kriegsbeginn
soll ihn jemand - sie sagt, »ain Kumpel von dem Itzich« - vergiftet haben.
Es ist anzunehmen, daß die Pokriefkes mit einem der letzten Schübe an Bord gekommen
sind, zugelassen, weil ihre Tochter sichtlich schwanger war. Nur mit August Pokriefke hätte
es Schwierigkeiten geben können. Die auf der Kaianlage kontrollierende Feldpolizei hätte ihn
als tauglich für den Volkssturm aussortieren können. Doch da er, wie Mutter sagte, »sowieso
nur ne halbe Portion war«, konnte er sich durchmogeln. Zum Schluß waren die Kontrollen
ohnehin durchlässig. Chaotisch ging es zu. Kinder sind ohne Mütter aufs Schiff gekommen.
Und Mütter haben erleiden müssen, wie in dem Gedränge auf der Gangway ihr Kind von der
Hand weggerissen, über den Rand gestoßen wurde und zwischen Schiffswand und Kaimauer
im Hafenwasser verschwand. Da half kein Schreien.
Vielleicht hätten die Pokriefkes auch auf den Dampfern Oceana und Antonio Delfino Platz
finden können, so überbelegt sie mit Flüchtlingen waren. Beide Schiffe lagen gleichfalls am
Kai Gotenhafen-Oxhöft, dem, wie man sagte, »Kai der guten Hoffnung«; und diese zwei
mittelgroßen Transporter haben auch ihre Zielhäfen Kiel und Kopenhagen glücklich erreicht.
Aber Erna Pokriefke wollte »ums Verrecken« auf die Gustloff, weil für sie so viele heitere
Erinnerungen an eine KdF-Reise in die norwegischen Fjorde mit dem damals weiß
schimmernden Motorschiff verbunden waren. Ins Flüchtlingsgepäck verstaut hatte sie das
Fotoalbum, in dem sich auch Schnappschüsse von der Urlaubsreise
befanden. Erna und August Pokriefke werden das Schiffsinnere kaum
wiedererkannt haben, denn alle
Fest- und Speisesäle, die ausgeräumte Bibliothek, der Trachtensaal und die Musikhalle waren
- nun ganz ohne Bildschmuck - zu lärmigen Matratzenlagern verkommen. Sogar das verglaste
Promenadendeck und die Gänge waren drangvoll belegt. Da Tausende Kinder, gezählte wie
ungezählte, zur menschlichen Fracht gehörten, mischte sich deren Geschrei mit
Lautsprecherdurchsagen: ständig wurden die Namen verirrter Jungen und Mädchen
ausgerufen.
Man hat Mutter, als die Pokriefkes unregistriert an Bord kamen, von ihren Eltern getrennt.
Das entschied eine Krankenschwester. Ungewiß blieb, ob das Ehepaar von den Aufsicht
übenden Marinehelferinnen in eine schon belegte Kabine gezwängt worden ist oder ob es mit
restlichem Gepäck inmitten der Massenlager Platz gefunden hat. Tulla Pokriefke sollte das
Fotoalbum und ihre Eltern nie wiedersehen. Das schreibe ich in dieser Reihenfolge auf, weil
mir sicher zu sein scheint, daß der Verlust des Fotoalbums für Mutter besonders schmerzhaft
gewesen ist, denn mit ihm sind alle Aufnahmen, geknipst mit der familiären Kodak-Box,
verlorengegangen, auf denen sie mit ihrem Bruder Konrad, dem Lockenköpfchen, auf dem
Zoppoter Seesteg, mit ihrer Schulfreundin Jenny und deren Adoptivvater, dem Studienrat
Brunies, vorm Gutenbergdenkmal im Jäschkentaler Wald sowie mehrmals mit Harras, dem
rassenreinen Schäferhund und berühmten Zuchtrüden, zu
sehen gewesen war. Mutter sprach immer vom achten Monat der
Schwangerschaft, wenn es in ihren
Endloserzählungen um die Zeit der Einschiffung ging. Wahrscheinlich war es der achte. In
welchem Monat auch immer, sie wurde in die Entbindungs- und
Wöchnerinnenstation eingewiesen. Die befand sich neben der
sogenannten Laube, in der dicht
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