Im Krebsgang
in der Danziger Bucht eine Fahrrinne räumen müssen. Schwere See und Sturmböen waren vorausgesagt.
Wenn ich mich trotzdem frage, ob Mutter nicht rechtzeitig hätte von Bord gehen können, liegt der Grund für diese an sich sinnlose Erwägung in der verbürgten Tatsache, daß bald nach dem Auslaufen der Gustloff, die von vier Schleppern aus dem Oxhöfter Hafenbecken gezogen wurde, ein Küstendampfer, die Reval, im Schneegestöber auftauchte und unausweichlich Gegenkurs hielt. Überladen mit Flüchtlingen aus Tilsit und Königsberg kam das Schiff von Pillau her, dem letzten ostpreußischen Hafen. Da im Unterdeck nur beschränkt Platz war, standen die Flüchtlinge dichtgedrängt auf dem Oberdeck. Wie sich zeigen sollte, waren viele während der Überfahrt erfroren, blieben aber dem stehenden Eisblock eingefügt.
Als die gestoppte Gustloff einige Fallreeps runterließ, gelang es den Überlebenden, sich, wie sie meinten, auf das große Schiff zu retten; in der gestauten Wärme der Gänge und auf Treppen fanden sie Lücken.
Hätte nicht Mutter über ein Fallreep den umgekehrten Weg nehmen können? Immer hat sie es verstanden, rechtzeitig kehrtzumachen. Die Gelegenheit! Warum nicht von dem Unglücksschiff runter auf die Reval? So wäre ich, hätte sie sich trotz dickem Bauch treppab gewagt, woanders - weiß nicht, wo -, bestimmt aber später und nicht am 30. Januar geboren worden.
Da ist es wieder, das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser vermaledeite Dreißigste. Wie er mir anhängt, mich stempelt. Nichts hat es gebracht, daß ich mich jederzeit, ob als Schüler und Student oder als Zeitungsredakteur und Ehemann, geweigert habe, im Freundes-, Kollegen- oder Familienkreis meinen Geburtstag zu feiern. Immer war ich besorgt, es könne mir bei solch einer Fete - und sei es mit einem Trinkspruch - die dreimal verfluchte Bedeutung des Dreißigsten draufgesattelt werden, auch wenn es so aussah, als habe sich das bis kurz vorm Platzen gemästete Datum im Verlauf der Jahre verschlankt, sei nun harmlos, ein Kalendertag wie viele andere geworden. Wir haben ja Wörter für den Umgang mit der Vergangenheit dienstbar gemacht: sie soll gesühnt, bewältigt werden, an ihr sich abzumühen heißt Trauerarbeit leisten.
Doch dann sah es so aus, als müsse im Internet noch immer oder schon wieder am Dreißigsten, dem Staatsfeiertag, geflaggt werden. Jedenfalls stellte mein Sohn den Tag der Machtergreifung aller Welt sichtbar als rotes Kalenderblatt aus. In Schwerins Plattenbausiedlung Großer Dreesch, wo er seit Beginn des neuen Schuljahres bei seiner Großmutter wohnte, war er weiterhin als Webmaster tätig. Gabi, meine Ehemalige, hatte den Umzug unseres Sohnes - weg von der linkslastig mütterlichen Dauerbelehrung, hin zur Quelle großmütterlicher Eingebungen - nicht verhindern wollen. Schlimmer noch, sie hat sich jeder Verantwortung entledigt: »Mit demnächst siebzehn kann Konrad selbst entscheiden.«
Ich wurde nicht gefragt. Die beiden trennten sich, wie es hieß, »einvernehmlich«. Und so vollzog sich der Umzug vom Möllner zum Schweriner See lautlos. Selbst der Schulwechsel soll, »dank seiner überdurchschnittlichen Leistungen«, glatt verlaufen sein, wenngleich ich mir meinen Sohn nur schlecht im stehengebliebenen Schulmief der Ossis vorstellen konnte. »Das sind Vorurteile«, sagte Gabi. »Konny zieht nun mal die strenge Lerndisziplin dort unserem eher laxen Schulbetrieb vor.« Dann gab sich meine Ehemalige abgehoben: Als Pädagogin, die für freie Willensbildung und offene Diskussion eintrete, sei sie zwar enttäuscht, müsse aber als Mutter die Entscheidung ihres Sohnes tolerieren. Sogar Konnys Freundin - so erfuhr ich von der blassen Existenz der Zahnarzthelferin - könne seinen Entschluß verstehen. Allerdings werde Rosi in Ratzeburg bleiben, Konrad aber gerne und so oft wie möglich besuchen.
Gleichfalls blieb ihm sein Dialogpartner treu. David, dieser entweder frei erfundene oder irgendwo leibhaftige Stichwortgeber, stieß sich nicht an dem Umzug oder nahm ihn nicht wahr. Jedenfalls tauchte er, als es im Chatroom meines Sohnes um den Dreißigsten ging, nach längerer Pause abermals und mit gleichbleibend antifaschistischen Sprüchen auf. Auch sonst verlief das Gechatte vielstimmig: entweder protestgeladen oder blindlings zustimmend. Eine wahre Quasselbude tat sich auf. Bald war
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